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Einleitung

Im Jahr 1997 waren in der Bundesrepublik Deutschland 147 860 Kinder und Jugendliche außerhalb ihres Elternhauses in Heimen oder Pflegefamilien untergebracht.[1] Im gleichen Jahr wurde von Vormundschaftsgerichten 7984 Eltern das Sorgerecht gänzlich oder teilweise entzogen.[2] Während man bei den Fällen von Sorgerechtsentzug sicher voraussetzen kann, dass ursächlich für die Entscheidungen schwere familiäre Konflikte sind, die zu einschneidenden biographischen Brüchen bei den Kindern geführt haben, so kann man ähnliches auch für den größten Teil der Fälle von Fremdunterbringung annehmen. In der Regel wurden alle diese Entscheidungen „im Sinne des Kindeswohls“ getroffen.

Auf den ersten Blick scheint der Begriff Kindeswohl unkompliziert. Jeder, der darauf angesprochen wird, kann sich etwas vorstellen. Die eigene Kindheit wird damit verknüpft, was einen glücklich machte, worunter man gelitten hat. Viele denken auch an Scheidung und Partnerkonflikte und was man den eigenen Kindern an Leid ersparen will.

Ein erster Versuch der Verobjektivierung des Begriffs scheitert dann unerwartet: In einschlägigen Lexika, pädagogischen Wörterbüchern oder den bekannten Enzyklopädien der Erziehungswissenschaft ist das Stichwort Kindeswohl nicht zu finden.[3] Aufklärung ist von dieser Seite nicht zu erwarten.

Im Deutschen Zentralinstitut für soziale Fragen – Archiv für Wohlfahrtspflege – (DZI)[4] ergab eine Recherche nach Literatur mit dem Stichwort Kindeswohl seit 1988 dagegen eine ganze Reihe von Resultaten: Vierzehn Monographien und zweiundzwanzig Aufsatztitel aus den Bereichen Verwaltung, Gerichte, psychologische Diagnostik, aber auch eine Monographie zur „Jungenarbeit“ wurden gefunden. Sorgerecht, Kinderschutz, Adoption, Kindschaftsrechtsreform, Jugendhilfeeinrichtungen, Elternrecht, Kindesrecht, Gestaltung kindgerechter Umwelt, die ärztliche Perspektive und vieles mehr waren die Themen. So ließe sich der Begriff Kindeswohl auf vielen Ebenen erörtern – von einer politischen Beteiligung von Kindern angefangen, über die Planung der Jugendhilfelandschaft und Auseinandersetzungen zu Konzepten und der Praxis in Jugendhilfeeinrichtungen, sowie dem Kindesschutz vor bestimmten gesellschaftlichen Erscheinungen (zum Beispiel Pornographie), bis hin zur Gestaltung und Zielsetzung in vormundschafts- und familiengerichtlichen Verfahren, die individuelle Familien betreffen.

Das Jugendamt bildet eine Schnittstelle zwischen vielen dieser Bereiche, von der politischen Jugendhilfeplanung und der Zulassung von Einrichtungen, bis zur Zusammenarbeit mit den Gerichten durch Sozialarbeiter.[5] Da deren Aufgaben vielfältig sind, soll eine Fallgeschichte der Jugendamtspraxis berichtet aus der Sicht einer Sozialarbeiterin das Anliegen dieser Arbeit fokussieren und anschaulich illustrieren:

Situation: Familie mit vier Kindern, davon zwei schulpflichtig. Wohnsituation: relativ eng, drei Zimmer, Küche, großer Flur, Waschgelegenheit. Mutter zu Hause, Hausfrau. Vater seit ca. 4 Jahren arbeitslos, aus Sicht des Sozialamtes arbeitsscheu, kaum zu Hause.

Finanzielle Situation: Arbeitslosenhilfe – Hilfe zum Lebensunterhalt – Kindergeld. Allerdings ist es so, daß die Frau mit den Kindern stets ohne Geld ist, da der Ehemann alles an sich nimmt, jedoch nicht immer für den Lebensunterhalt aufkommt. So ist die Frau gezwungen, mit dem auszukommen, was der Mann ihr gibt, oder sich anderweitig (betteln) zu helfen. Aufgrund dessen, daß die Mutter die Kinder vernachlässigte, hatte ich nun überlegt, ob die Situation, die vor allem die Kinder betrifft, Möglichkeiten einer Verbesserung gibt. Der Vater der Kinder war in keiner Weise zugänglich, so daß eine Änderung der finanziellen Lage nicht zu erwarten war. Die Mutter war nur begrenzt zugänglich. Die Vernachlässigung der Kinder ging so weit, daß sie sich nicht um saubere Kleider für die Kinder bemühte, es kamen Klagen aus der Schule, die Kinder würden stinken (Urin). Des weiteren wurde ein Kind, das sich schwere Verbrennungen zugezogen hatte vor längerer Zeit, nicht einem Arzt zur Nach- und Weiterbehandlung vorgestellt, obwohl dies dringend erforderlich war (das Kind konnte den Arm aufgrund von Vernarbungen nicht richtig bewegen) und obwohl die Mutter mehrmals dazu aufgefordert wurde. Meine Überlegungen gingen nun dahin, da mit der Mutter durch Gespräche keine Verhaltensänderung erreicht wurde, ob es sinnvoll wäre, die Kinder aus der Familie zu nehmen.“[6]

Im Amt könnte die Geschichte etwa so weitergehen: Der Impuls der Sozialarbeiterin lautet wahrscheinlich: „Diese Lebensbedingungen kann man den Kindern nicht zumuten, da muss was passieren.“ Die Sozialarbeiterin lädt, durchaus auf eine ihrer Vorstellung von Kindeswohl genügende Lösung aus, die Eltern in die Sprechstunde ein. Sie wendet sich an die Eltern, deren Geschichte sie seit einiger Zeit, vielleicht schon seit ein paar Jahren kennt: „Sehen Sie doch ein, für das Wohl ihrer Kinder wäre es besser, wenn diese wenigstens zeitweise außerhalb der Familie untergebracht wären, weil Sie als Eltern offensichtlich nicht in der Lage sind, Ihre Kinder angemessen zu versorgen. Könnten Sie nicht vorläufig freiwillig auf Ihr Sorgerecht verzichten, bis sich Ihre Lage gebessert hat?“ Die Eltern sind bestürzt und wissen nicht, was sie sagen sollen. Nach dem Staunen kommt die Wut. Ein Wort gibt das andere, und unter Protest verlassen sie den Raum: Sie wollen sich ihre Kinder auf keinen Fall wegnehmen lassen.

Es sei unterstellt, dass die Sozialarbeiterin diese Zumutung für die Eltern nicht leichtfertig vorgebracht hat, sondern eine solche Entscheidung nach reiflicher Recherche und eingehenden Überlegungen und unter Zuhilfenahme von Unterredungen mit Kollegen im Team vorschriftgemäß getroffen wurde. So stellt sich die Frage: woran orientieren sich die Sozialarbeiter bei ihrer Entscheidung? Dann stellt sich die Frage, woran liegt es, dass die Eltern die Zusammenhänge, die zu dieser für sie so katastrophalen Entwicklung führten, nicht verstehen können oder wollen: Das sozialpädagogische Handeln der Sozialarbeiterin ist für sie bestenfalls eine Mischung aus deren persönlicher Schikane und Behördenwillkür.

Das Drama im Amt nimmt endgültig seinen Lauf. Die Kinder werden – vielleicht sogar vom Gerichtsvollzieher – zwangsweise und unter lautstarkem Protest der Erziehungsberechtigten aus der Wohnung der Familie geholt und erst mal ins Heim gebracht. Der Kontakt zu den Eltern ist ab sofort gestört. Die Kinder selber sind verstört und verhalten sich in ihrer neuen Umgebung schwierig. Es wird lange dauern, bis sich die Beteiligten von den traumatisierenden Ereignissen halbwegs erholt haben. Eine Verarbeitung findet kaum statt. Die Sozialarbeiterin handelte im Namen und als Agentin des „Kindeswohls“. Sie ist überzeugt, in einer Notsituation das Richtige getan zu haben. In der Konsequenz jedoch ist völlig offen, ob hier das Wohl des Kindes nicht so sehr geschützt wurde, dass es dadurch am Ende Schaden genommen hat.

Und es ist damit noch nicht vorbei. Solche Konflikte zwischen Behörde und Familien sind Quellen für höchst strittige, zerstörende und langwierige Gerichtsverfahren. Die Kinder sind über lange Zeit unsicher über ihren Verbleib in der Pflegestelle und können von daher dort nicht Fuß fassen. Und: Für die Kinder, die da hineingezogen werden, sind diese Ereignisse lebenslang prägend.

In der vorliegenden Arbeit soll dargestellt werden, dass diese im Ergebnis äußerst ambivalente und in der Praxis widersprüchliche Produktion von Kindeswohl im modernen Behördenalltag nicht allein Symptom eines individuellen Kommunikationsproblems zwischen Sozialarbeiter und seiner Klientel ist. Es soll vielmehr nachgewiesen werden, dass die Ursprünge des Scheiterns der Realisierung von Kindeswohl einerseits in der historischen Entwicklung der Jugendhilfe zu verorten sind, welche zunächst das Definitionsmonopol von Kindeswohl den Eltern streitig zu machen suchte (Teil 1/Kapitel 1). Andererseits spiegelt sich in der bürokratischen Form der Jugendhilfe ein Machtgefälle wider, welches die Eltern mit tiefem Misstrauen erfüllen muss (Teil 1/Kapitel 2). Das geht so weit, dass diagnostische Begründungen für Entscheidungen gegen das Fortbestehen einer Familie den Charakter der Entmündigung von Klienten – wenigstens in deren Augen – bekommen können (Teil 2/Kapitel 3+4). So schlägt die Herstellung von Kindeswohl gerade in den Konfliktfällen in bloßen Zwang für alle Beteiligten um. Schließlich soll ein sozialpädagogischer Ansatz wiedergegeben werden, mit dem diesen Problemen entgegengewirkt werden kann (Teil 3/ Kapitel 5+6).

Das 1991 in Kraft getretene Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) stellt prinzipiell Mittel bereit, die beschriebenen Konflikte im Sinne eines in jedem konkreten Einzelfall gelingenden „Kindeswohls“ zu lösen. In diesem Zusammenhang lautet die zentrale Frage dieser Arbeit: Woran kann sich der Sozialarbeiter bei seinen Entscheidungen zum Kindeswohl orientieren? Und was kann er tun, um Fallverläufe wie eingangs beschrieben zu vermeiden

 

 



[1] Statistisches Bundesamt Wiesbaden 1999, die Rechtsgrundlage für die Erhebung dieser Zahlen ist das Achte Sozialgesetzbuch (Kinder- und Jugendhilfegesetz – KJHG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 3. Mai 1993 (BGBl. i s. 637) , geändert durch das Gesetz vom 15. Dezember 1995 (BGBl. i. s. 1775) , Artikel 1, Paragraphen 98-103

[2] Statistisches Bundesamt Wiesbaden 1999

[3] Siehe Erziehungswissenschaftliche Bibliothek der FU-Berlin

[4] DZI, 14195 Berlin, Bernadottestrasse 94. Recherchedatum 15. Dezember 1998

[5] Obwohl bekannt ist, dass der größte Anteil der Mitarbeiter im Jugendamt weiblich ist und es sich sicherlich um einen weiblich geprägten Beruf handelt, wird aus Gründen der Übersichtlichkeit die männliche Form gewählt. Ausnahmen sind die wenigen Einzelbeschreibungen, bei denen es sich nachweislich um weibliche Sozialarbeiterinnen handelt.

[6] Burkhard Müller: Sozialpädagogisches Können. Ein Lehrbuch zur multiperspektivischen Fallarbeit. Freiburg im Breisgau 1997, dritte Auflage, Seite 33 f

 
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