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Teil 1: Historische und strukturelle Bedingungen von Kindeswohl

1)       Kindeswohl im Spannungsfeld von Elternrecht und staatlichem Wächteramt

Um den Begriff Kindeswohl in seiner Tragweite für die heutige Sozialarbeit einschätzen zu können, muss zunächst seine Entstehungsgeschichte in der Jugendhilfe dargestellt werden. Dabei ergibt sich, welchen Stellenwert, Funktion und Problematik der Begriff Kindeswohl in den sozialarbeiterischen Alltag einbringt. „Um den heute gültigen Handlungsrahmen sozialpädagogischer Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe einschätzen zu können, ist es erforderlich, den rechtlichen, fachlichen und gesellschaftlichen Wandel im Verständnis dieses Aufgabenbereiches zu berücksichtigen.“[1]

Voraussetzungen zur Gründung von Jugendämtern und der Erarbeitung des Reichs-Jugend-Wohlfahrts-Gesetzes (RJWG)

Die gesellschaftlichen Probleme mit Kindern und Jugendlichen am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts waren vor allem Verwahrlosung und Kriminalität unter den Jugendlichen, was dazu führte, dass in den Jahren 1910 und 1913 in verschiedenen Städten wie Hamburg, Lübeck und Berlin jeweils ein besonderes Amt für die Jugend gegründet wurde.[2] Während sich zuvor staatliche Eingriffe auf Unglücksfälle beschränkten, bei denen die Kinder ihre Eltern durch Tod oder andere Umstände verloren, wurden in dieser Zeit Zweifel an der väterlichen Autorität in den Familien laut, und das bisher unantastbare Vorrecht der Eltern, das Kindeswohl zu interpretieren und vor allem entsprechend zu handeln, wurde in Frage gestellt.[3]

Der Verlust an traditionellen Werten, der sich im Zweifel an der elterlichen Autorität ausdrückte, ging einher mit wachsenden Sozialisationsanforderungen für die Teilnahme am Produktionsprozess.[4] Es bedurfte einer staatlichen Korrektur, weil die Lebensweise von Kindern und Jugendlichen entweder die Grenzen des Statthaften (Verwahrlosung, und hierunter fiel auch Nichtehelichkeit) oder die Grenzen des Erlaubten (Kriminalität) überschritt.

Ein Eingriff in das väterliche Sorgerecht gegen dessen Willen war nach § 1 Satz 3 des RJWG dann zulässig, wenn ein Gesetz es erlaubt. Das hierfür zutreffende Gesetz war der damalige § 1666 BGB, der den Eingriff legitimierte, wenn „das geistige oder leibliche Wohl des Kindes dadurch gefährdet (wird, T.L.), dass der Vater das Recht der Sorge für die Person des Kindes missbraucht, das Kind vernachlässigt oder sich des unsittlichen Verhaltens schuldig macht, so hat das VG. (Vormundschaftsgericht, T.L.) die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßregeln zu treffen.“[5] Das heißt, der Staat verpflichtet sich, Gefahren für das geistige oder leibliche Wohl der Kinder abzuwenden.

Die staatlichen Maßregelungen bestanden damals in der Hauptsache aus „familienersetzenden Maßnahmen“, verbunden mit der gleichzeitigen Wiederherstellung von Kontrolle. In der Regel ging es um die Unterbringung der Minderjährigen in Waisenhäusern oder Pflegefamilien. „Nicht die unmittelbare Einwirkung auf das Kind (auch nicht auf seine Eltern, T.L.) stand im Vordergrund der Jugendamtsarbeit, sondern die Erwägung, wie die Umgebung des Kindes, die Einflüsse von Familie, Pflegefamilie, Kameradschaft und Gespielen, Wohnung und dergleichen, am besten für es gestaltet werden können oder bessere Einflüsse an die Stelle zu setzen sind.“[6] Dabei hat der Staat schließlich auch das Kindeswohl zu gewährleisten, nämlich für die in seiner Obhut befindlichen Kinder (uneheliche Kinder, die bei ihrer Mutter leben eingeschlossen). Dies bewerkstelligte das Jugendamt mit der Erteilung und Überprüfung der Pflegeerlaubnis der Pflegestellen (§20 RJWG).[7]

Das Jugendamt hat seine institutionellen Wurzeln in der Armenpflege, welche sich rechtlich auf das damalige Polizei- und Ordnungsrecht stützte. Ordnungspolitisch waren auch die ursprünglichen Regelungen der Jugendwohlfahrt intendiert. In ihrer ersten zusammenfassenden Form im Reichswohlfahrtsgesetz von 1922 waren diese nämlich vor allem durch obrigkeitsstaatliche Kontroll- und Eingriffsbefugnisse geprägt.[8] C. W. Müller verstärkt diese Einschätzung, in dem er mit Detlev Peukert vermutet, dass mit dem erstmals im § 1 des RJWG formulierten und fortschrittlich intendierten „Rechtes des Kindes auf Erziehung“, welches der Minderjährige natürlich nicht selbst verfolgen konnte, vor allem der kontrollierenden Staatsintervention eine breite Eingriffsschneise geschlagen werden sollte.[9] Gertrud Bäumer schließlich, eine der Mütter des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes, beschreibt 1929 die sozialpädagogische Jugendamtsarbeit als „alles, was Erziehung, aber nicht Schule und nicht Familie ist. Sozialpädagogik bedeutet hier den Inbegriff der gesellschaftlichen und staatlichen Erziehungsführsorge (...)“[10] Die damals emphatisch begleitete Perspektive, mit Hilfe von einheitlich organisierten Jugendämtern die Erziehung „vergesellschaften“ zu können, bereitete allerdings, wie im Folgenden ausgeführt werden soll, den Boden für eine staatsmonopolistische Kindeswohldefinition.

Staatlicher Eingriff in die Erziehung von Kindern und Jugendlichen unter dem Nationalsozialismus

Der Zusatz zum „Recht des Kindes auf Erziehung“, nämlich „zur sozialen Brauchbarkeit“, legt dieses Recht zwar nicht inhaltlich fest, aber er ebnet einen weiten Raum zum Eingriff in Familien, die den gesellschaftlichen Vorstellungen von Kindererziehung nicht entsprechen. Genau dieses Recht wurde im Nationalsozialismus inhaltlich gefüllt und zur Legitimation von staatlichen Eingriffen verwendet. Der §1 des RJWG „Jedes deutsche Kind hat ein Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit (...)“ wurde 1938 umformuliert in: „Die Erziehung der Jugend im nationalsozialistischen Staate ist Erziehung zur deutschen Volksgemeinschaft. Ziel der Erziehung ist der körperlich und seelisch gesunde, sittlich gefestigte, geistig entwickelte, beruflich tüchtige deutsche Mensch, der rassebewußt in Blut und Boden wurzelt und Volk und Reich verpflichtet und verbunden ist. Jedes deutsche Kind soll in diesem Sinne zu einem verantwortungsbewußten Glied der deutschen Volksgemeinschaft erzogen werden.“[11]

Hier wird ein Gesetz umformuliert, welches ursprünglich aus der Perspektive des einzelnen Kindes ein individuelles Recht, nämlich das auf Erziehung, einräumt und anderseits auf konkrete Ziele verzichtet, welche die Entfaltung des Kindes einschränken könnten. Mit der Umformulierung durch die Nationalsozialisten wurden Erziehungsziele für die eigenen Zwecke inhaltlich zugerichtet, und genau dies markiert die Kluft zwischen demokratischen Zielen bei der Erziehung und totalitären. C.W. Müller zitiert hierfür den 1933 zum Rektor der Universität Frankfurt gewählten und 1934 zum Professor für Philosophie und Pädagogik in Heidelberg berufenen Ernst Krieck[12], nach dem sich die Nationalsozialisten zu einer Ablehnung von individuellen Werten und Rechten auch in der Erziehung bekennen: „Nicht vom Kinde aus, von seinen Bedürfnissen oder gar Wünschen erzieht man heute, sondern vom Volke aus. Denn nicht die kleine, individualistische Ichpersönlichkeit ist das Ziel, die in sich selbst versponnen eigenbrötlerisch ist, sondern die Gliedschaft im Volk, im großen Ganzen“.[13] Jetzt ist es klar: Mit dem Nationalsozialismus ist das Kindeswohl keine individuell zu erzeugende Sache mehr.

Es ist hier nicht notwendig, näher zu erörtern, was die nationalsozialistischen Ideen wie „Gliedschaft im Volk“ oder ähnliches für den Begriff Kindeswohl bedeutet haben, da der Gegenstand der Arbeit nicht eine historische Analyse der nationalsozialistischen Erziehungs- und Abrichtungsmaschinerie sein soll. Vielmehr war hier zu zeigen, dass wer wie die Nationalsozialisten versucht, Erziehungsziele per Gesetz detailliert fest- und vorzuschreiben, einen großen Zwang und Anpassungsdruck auf die Familien als Erziehungsinstanz aus übt. Die Konsequenz ist nicht nur Vereinseitigung, sondern auch ein so entstehender Mangel an gesellschaftlicher Kreativität sowie eine Entmündigung der Familie als Erziehungsinstanz. Die konkreten Konsequenzen aus der nationalsozialistischen Jugendpolitik waren die aufgezwungene Fixierung und Vereinnahmung einer ganzen Generation von Kindern und Jugendlichen auf das Führerprinzip und damit auf die Person Adolf Hitlers als alleinige Autorität.

Eine Rede Hitlers vor HJ-Führern 1938 verdeutlicht seinen Anspruch auf die „totale pädagogische Erfassung“[14] der jungen Generation und seinen totalen Erziehungsanspruch:

 „(...) und wenn nun diese Knaben, diese Mädchen mit ihren zehn Jahren in unsere Organisation hineinkommen und dort so oft zum erstenmal überhaupt eine frische Luft bekommen und fühlen, dann kommen sie vier Jahre später vom Jungvolk in die Hitler-Jugend, und dort behalten wir sie wieder vier Jahre, und dann geben wir sie erst recht nicht zurück in die Hände unserer alten Klassen- und Standeserzeuger, sondern dann nehmen wir sie sofort in die Partei oder in die Arbeitsfront, in die Sozialarbeiter oder in die SS, in das NSKK und so weiter. Und wenn sie dort zwei und anderthalb Jahre sind und noch nicht ganze Nationalsozialisten geworden sein sollten, dann kommen sie in den Arbeitsdienst und werden dort wieder sechs oder sieben Monate geschliffen (...) Und was dann nach sechs oder sieben Monaten noch an Klassenbewußtsein oder Standesdünkel da oder dort noch vorhanden sein sollte, das übernimmt dann die Wehrmacht zur weiteren Behandlung auf zwei Jahre (Beifall), und wenn sie dann nach zwei oder drei oder vier Jahren zurückkehren, dann nehmen wir sie, damit sie auf keinen Fall rückfällig werden, sofort in die SA, SS und so weiter, und sie werden nicht mehr frei für ihr ganzes Leben (Beifall), und sie sind glücklich dabei.“[15]

Hitlers Erziehungsanspruch bedeutet einen bis dahin nicht erreichten staatlichen Eingriff in die bis dahin bestehende, aber schon fragile Erziehungsautonomie der Familie. Jetzt verordnet ihr der „Führer“ eine komplette zweite Erziehungsinstanz, in die jeder unter Zwang einbezogen werden soll und die gleichzeitig das Glück einer Angleichung gesellschaftlicher Differenzen – für viele damals durchaus erfolgreich – verspricht. Nur die Erziehung der Kleinkinder wurde den Familien belassen, die aber fast ausschließlich im Hinblick auf die gesellschaftliche Nützlichkeit der Kinder als zukünftige Arbeiter oder Soldaten gefördert wurde.[16]

Am nationalsozialistischen Regime kann gezeigt werden, wozu es führt, wenn der Begriff Kindeswohl streng gesetzlich definiert wird. Das Kindeswohl wird hier zur Legitimation eines staatlichen Programms zur Leistungsmaximierung von Militär und Produktion missbraucht. Abgesehen davon, dass eine solche strikte Definition nur unter einem totalitären Regime möglich ist, bedeutet sie auch unter anderen Bedingungen notwendigerweise Zwang und Unterdrückung für alle anderen Vorstellungen von Erziehung. Die staatliche Verordnung und Ausbeutung von Kindeswohl funktioniert nur, wenn dabei in Kauf genommen wird, dass mit anderen Erziehungszielen auch gesellschaftliche Vielfalt und Produktivität verloren gehen.

Neuregelung des Verhältnisses von Elternrecht und staatlichem Wächteramt durch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland

Durch die Erfahrung aus der NS-Zeit wurde die verfassungsrechtliche Stellung des „natürlichen“ Elternrechts im Artikel 6 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland bedeutend verstärkt und in den Grundrechte-Katalog aufgenommen.[17] Artikel 6 Absatz 1 stellt die Ehe und Familie insgesamt unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Die Absätze 2 und 3 bestimmen die elterlichen Freiräume bei ihrer Betätigung und bei ihren Entscheidungen im Verhältnis zum staatlichen Handeln.[18] Sie garantieren den Eltern den Vorrang und damit die Eigenständigkeit und Selbstverantwortlichkeit bei der Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Gleichzeitig wird die staatliche Gemeinschaft zum Wächter darüber eingesetzt, welcher sich aber nur im Rahmen von Gesetzen bewegen darf, die sich an der Förderung und Entwicklung der Kinder orientieren.

Im Folgenden hat sich die verfassungsrechtliche Rechtsprechung bis 1968 dahin entwickelt, dass „das Wohl des Kindes (...) den Richtpunkt für den Auftrag des Staates gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG“[19] bildet. Dieses „Wohl des Kindes“ wurde, nach Schrapper, so verstanden, dass nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit der Eltern den Staat berechtigt, die Eltern aus der Erziehung auszuschalten und die Aufgabe selbst zu übernehmen. Vielmehr muss den Eltern im Sinne von Subsidiarität der Vorrang eingeräumt werden, und die Art und das Ausmaß des Eingriffes muss sich am Ausmaß des Versagens der Eltern und am Interesse der Kinder orientieren. So wurde dem staatlichen Wächter jetzt die Aufgabe zuteil, den Eltern helfende und unterstützende Maßnahmen bereitzustellen, welche das verantwortungsbewusste Verhalten der Eltern herstellen oder wiederherstellen können.

In diesem Sinne erhielt der §1666 BGB[20], aufgrund dessen natürlichen Eltern das Sorgerecht bei Gefährdung des „Kindeswohls“ entzogen werden kann, einen Zusatz in Form des § 1666a BGB, erster Absatz: „Maßnahmen, mit denen eine Trennung des Kindes von der elterlichen Familie verbunden ist, sind nur zulässig, wenn der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch öffentliche Hilfen, begegnet werden kann.“ Schrapper fasst daraufhin zusammen, „daß der verfassungsrechtliche Vorrang elterlicher Erziehung auch als vorrangige Garantie für die Verwirklichung der Persönlichkeitsrechte des Kindes gesehen wird.“ Elternrecht und staatliches Wächteramt werden rechtsdogmatisch verknüpft. Damit erhofft man sich die Würde und das Wohl des Kindes am besten zu schützen. Zwischen den beiden Polen Elternrecht und staatliches Wächteramt ist das Kindeswohl angesiedelt.[21]

Die Verfassung schützt die Verantwortung, Betätigung und Verpflichtung der Eltern, indem sie die Eltern mit Abwehrrechten[22] gegenüber staatlichen Eingriffen ausstattet und Ansprüche auf soziale Leistungen zur Unterstützung und Hilfe zugesteht. Das staatliche Wächteramt ist also keine konkurrierende Einrichtung für die Eltern, sondern hat subsidiären Charakter, so Schrapper. Der Staat soll nur dort eingreifen, wo die Eltern scheitern und nicht alleine weiterkommen. Eine generelle Definition des Kindeswohls wird nicht angestrebt.

Neuregelung des Verhältnisses von Elternrecht und staatlichem Wächteramt durch das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG)

Das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG, Achtes Sozialgesetzbuch), das am 1. Januar 1991, beziehungsweise in den neuen Bundesländern bereits am 3. Oktober 1990 in Kraft getreten ist, ersetzt das Jugendwohlfahrtsgesetz aus dem Jahr 1953, welches nach Rücknahme der Entstellungen durch die Nationalsozialisten auf dem in den Urzustand versetzten Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922 beruhte.[23] Das KJHG nun interpretiert das Spannungsfeld Elternrecht und staatliches Wächteramt in erster Linie so, dass dabei Elternrechte gestärkt und vor allem die Erziehungsleistung der Eltern durch Hilfemaßnahmen gefördert und unterstützt  werden sollen.[24]

Dies manifestiert sich im Besonderen am neuen § 36 KJHG (Mitwirkung, Hilfeplan),[25] in welchem vor der Entscheidung über die Inanspruchnahme einer Hilfe vom Amt der oder die Personensorgeberechtigte(n) und das Kind oder der Jugendliche beraten und auf die möglichen Folgen für die Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen hingewiesen werden soll. Des Weiteren wird eine enge Zusammenarbeit der beteiligten Fachkräfte gefordert.

Die Leistungsadressaten des KJHGs sind in erster Linie die Sorgeberechtigten, da insbesondere die elterliche Erziehungsleistung zum Wohl des Kindes gefördert werden soll. Schrapper fasst daher den Handlungsauftrag des KJHG an die Sozialarbeiter folgendermaßen zusammen: Zunächst sind „die Eltern (...) bei den Aufgaben der Versorgung und Erziehung der Kinder zu unterstützen und zu entlasten, sowie Kinder sind insbesondere präventiv vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen. Beide Aufgabenschwerpunkte sind gleichrangig, wobei der Schutz der Kinder vorrangig durch Entlastung, Unterstützung und Hilfe für die Eltern realisiert werden muß. D.h. Eltern müssen erkennen können, daß alle öffentlichen Interventionen ihrer Unterstützung und Hilfe dienen sollen, und Eltern müssen das Vertrauen haben können, daß im Rahmen von Hilfe nicht Hinweise und Begründungen für Eingriffe gesammelt werden.“[26] Schließlich gehört zum gesetzlichen Handlungsauftrag der Kinder- und Jugendhilfe ebenfalls die Verpflichtung zu beurteilen, ob der Schutz des Kindes nur noch durch Eingriffe des Vormundschaftsgerichtes (Trennung von der Familie) gewährleistet werden kann (§50 KJHG Abs.3 unter „Andere Aufgaben der Jugendhilfe“[27]): „Hält das Jugendamt zur Abwendung einer Gefährdung des Wohls des Kindes oder des Jugendlichen das Tätigwerden des Gerichtes für erforderlich, so hat es das Gericht anzurufen.“[28]

Die Rolle der Behörde in Bezug auf das Vormundschaftsgericht wird genau bestimmt: „Das Jugendamt steht selbständig neben dem Gericht (bei seiner Mitwirkung am Verfahren, T.L.), ist ihm nicht untergeordnet und nicht an fachliche Weisungen gebunden (...), es ist nicht ausführendes Organ des Gerichts.[29] Auch „die inhaltliche Mitwirkung des Jugendamts im vormundschafts- und familiengerichtlichen Verfahren darf die Leistungen der Jugendhilfe nicht gefährden (...), denn auch die Erfüllung der »anderen Aufgaben« (§2 Abs.3) steht unter der generellen Zielsetzung der Jugendhilfe: Prävention vor Heilung, Leistung vor Eingriff, Freiwilligkeit vor Zwang (...). Wie das Jugendamt die Mitwirkung ausfüllt, ist der fachlichen Entscheidung der Jugendhilfe überlassen.“[30] Der Mitwirkungspflicht ist aber nicht Genüge getan mit einer bloßen Beschreibung der erbrachten Leistungen der Jugendbehörde. Es genügt aber eine Mitteilung über erfolgte Vereinbarungen mit den Eltern, beziehungsweise der mit den Eltern erarbeitete Sachstandsbericht. Eine Bewertung oder eine gutachterliche Stellungnahme ist nicht erforderlich, da sie einer Zusammenarbeit mit den Eltern entgegenstehen. Bei familiengerichtlichen Verfahren (Scheidungsverfahren) betonen Münder u.a. zusätzlich[31], dass eine wertende und beurteilende Mitwirkung des Jugendamts seine eigentliche Aufgabe, nämlich durch helfendes und stützendes Verhalten die Verantwortlichkeit der Eltern für ihre Kinder zu festigen, in Frage stellt. Die Entscheidungsinstanz ist, so Münder u.a., zu Recht bei den Familiengerichten monopolisiert[32]. „Die Jugendhilfe muß vermeiden, daß bei den Eltern der Eindruck entstehen kann, die Jugendhilfe sei letztlich die für die Entscheidung verantwortliche Instanz.“[33] Die so genannten anderen Aufgaben der Jugendhilfe sollen also nicht eine Aufkündigung der Zusammenarbeit mit den Eltern bedeuten. Der vielfach beschriebene Umschlag von der vertrauensvollen Zusammenarbeit im Leistungsbereich (§§ 11 bis 41 KJHG) zum gegeneinander Arbeiten bei fachlich notwendigen Eingriffen, ist von Gesetz her jedenfalls nicht vorgesehen und auch nicht erwünscht.[34]

Zusammenfassung

Der kurze Ausflug in die Geschichte des Jugendamtes hat gezeigt, dass zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts den sozialen Missständen in der Jugend über den Weg eines staatlichen Eingriffs in den privaten, bisher weitgehend unangetasteten Bereich der Familie begegnet werden sollte. Als Kriterium dafür wurde das „Recht des Kindes auf Erziehung“ formuliert. Der Staat entwickelt damit erstmals eine Definition von dem, was „Kindeswohl“ genannt werden könnte und setzt es dem bis dahin geltenden väterlichen Recht auf freie Entscheidung zur Erziehung entgegen.

Die Darstellung der Entwicklung im Nationalsozialismus hat gezeigt, wie ein totalitärer Staat die staatliche Definitionsmacht über das Kindeswohl für seine Zwecke perfektionieren und instrumentalisieren und die Eltern entmündigen kann. Auf Kosten der vielfältigen Formen von Erziehung wurde versucht, eine allgemein gültige Definition von Kindeswohl „von oben“ systematisch zu dekretieren.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gingen die Überlegungen dahin, die Familien als mündige Erziehungsinstanzen zu fördern. Im Grundgesetz wurden dafür weitgehende Elternrechte fest verankert und die Familie unter einen besonderen Schutz gestellt. Die Elternrechte sind aber durch die individuellen Persönlichkeitsrechte der Kinder eingeschränkt, über die der Staat zu wachen hat. Für das Kindeswohl bedeutet dies, dass es im Spannungs- und Auseinandersetzungsfeld zwischen Elternrecht und staatlichem Wächteramt angesiedelt liegt. Dabei soll das staatliche Wächteramt im Verhältnis zu den Eltern subsidiären Charakter haben.

Das Kindeswohl ist also abhängig von den gesellschaftlichen Vorstellungen von Lebensbedingungen, wie sie den Kindern gerade noch zugemutet werden können. Diese Vorstellungen haben sich mit der Zeit gewandelt.

Das KJHG ist nun so angelegt, dass es nicht erst einen Eingriff vorsieht, wenn die Eltern gänzlich versagt haben und die Familie getrennt werden muss, sondern dass es auch präventiv[35] durch das Jugendamt als Leistungsbehörde die Eltern unterstützen kann. Dadurch werden die staatlichen Aufgaben auf Hilfeleistungen ausgeweitet, die nicht allein Familien betreffen, in denen das staatliche Wächteramt ausgeübt werden muss, sondern einen wesentlich weiteren Kreis von Familien, die lediglich Hilfe benötigen. Das heißt, staatliche Definitionen von Kindeswohl werden auch in Familien wirksam, die verhältnismäßig intakt sind. Um auch im Bereich Hilfen zur Erziehung rechtsstaatlichen Anforderungen zu genügen, müssen auch für den unterstützenden Bereich Richtlinien für Kindeswohl entwickelt werden.[36]

Für die Sicherung der Rechtsstaatlichkeit im Konfliktfeld Eltern und staatliches Wächteramt ist die Vorgehensweise des Jugendamtes als Eingriffsbehörde bei Einschränkungen von Elternrechten genau vorgegeben. Die zuständigen Gerichte haben die Entscheidungshoheit. Die das Wächteramt ausführenden Sozialarbeiter haben zu ermessen, wann eine richterliche Entscheidung notwendig wird und müssen gleichzeitig Informationen gewinnen, nach denen die Richter schließlich entscheiden können. Der Weg bis zu dieser Entscheidung ist weniger genau vorgegeben, sondern durch eine Reihe von Ermessensspielräumen der Sozialarbeiter geprägt.[37] Die Entscheidung selbst bedeutet zugleich den Umschlag von Hilfe zu Eingriff und markiert den Doppelcharakter des Jugendamtes: Neben dem Helfenden steht immer auch das Drohende.


 



[1] Christian Schrapper: Elternrecht, Kindeswohl und staatliches Wächteramt. In: Forum Erziehungshilfen 1997 Heft 1, Seite 4; aber auch wortgleich siehe Christian Schrapper im Sachverständigengutachten zum Strafprozess gegen eine Osnabrücker Jugendamtsmitarbeiterin zum Tod eines Kindes einer von ihr betreuten Familie. In: Thomas Mörsberger/Jürgen Restemeier: Helfen mit Risiko. Neuwied/Kriftel/ Berlin 1997, Seite 23 f

[2] C. Wolfgang Müller: JugendAmt. Geschichte und Aufgabe einer reformpädagogischen Einrichtung. Weinheim/Basel 1994, Seite 24

[3] Spiros Simitis. In: Goldstein u.a.: Jenseits des Kindeswohls. Frankfurt am Main 1973, Seite 102f

[4] Autorenkollektiv: Rose Ahlheim, Wilfred Hülsemann, Helmut Kapczynski, Manfred Kappeler, Manfred Liebel, Christian Marzahn, Falco Werkentin: Gefesselte Jugend (1971), Seite 76 ff

[5] Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt. Berlin 1924, Kommentar zu § 1Satz 3,  Seite 23

[6] Klumker 1927 Zitiert aus C. Wolfgang Müller (1994), Seite 25. Das Autorenkollektiv sieht im JWG allerdings einen halbherzigen Schritt zu einer in ihrem Sinne revolutionären Vergesellschaftung von Erziehung, da der Erziehungsprimat bei der Familie verblieb und durch das Subsidiaritätsprinzip auch reaktionäre Träger unterstützt wurden. In: Gefesselte Jugend (1971), Seite 52.

[7] Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt(1924),  Seite 43

[8] Christian Schrapper (1997), Seite 4

[9] Detlev Peukert 1986 entnommen aus C. Wolfgang Müller (1994), Seite 25

[10] Gertrud Bäumer 1929 zitiert aus C. Wolfgang Müller (1994), Seite 25

[11]entnommen aus C. Wolfgang Müller (1994), Seite 51

[12]Die Informationen zum beruflichen Wirken von Krieck sind einer Kurzbiographie (1999) der Munzinger-Archiv GmbH Ravensburg entnommen

[13]Ernst Krieck zitiert nach Hermann Althaus, dem Amtsleiter des Amtes für Wohlfahrtspflege 1935, entnommen aus C. Wolfgang Müller (1994), Seite 51

[14]entnommen aus C. Wolfgang Müller (1994), Seite 52

[15] Rede Hitlers vor HJ-Angehörigen in Reichenberg, Dezember 1938 (Schallplattenaufnahme). Zitiert nach C. Wolfgang Müller (1994), Seite 52

[16] C. Wolfgang Müller (1994), Seite 54

[17] Christian Schrapper (1997), Seite 4f

[18] Grundgesetz Artikel 6

Absatz 1: Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung.

Absatz 2: Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.

Absatz 3: Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.

[19] Christian Schrapper (1997), Seite 5

[20] BGB § 1666: Gefährdung des Kindeswohls durch Eltern oder Dritte.
(1) Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes durch mißbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, durch Vernachlässigung des Kindes, durch unverschuldetes Versagen der Eltern oder durch das Verhalten eines Dritten gefährdet, so hat das Vormundschaftsgericht, wenn die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden, die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Das Gericht kann auch Maßnahmen mit Wirkung gegen einen Dritten treffen.
(2) Das Gericht kann Erklärungen der Eltern oder eines Elternteils ersetzen.
(3) Das Gericht kann einem Elternteil auch die Vermögenssorge entziehen, wenn er das Recht des Kindes auf Gewährung des Unterhalts verletzt hat und für die Zukunft eine Gefährdung des Unterhalts zu besorgen ist.
§ 1666a: Trennung des Kindes von der elterlichen Familie; Entziehung der Personensorge insgesamt.
(1) Maßnahmen, mit denen eine Trennung des Kindes von der elterlichen Familie verbunden ist, sind nur zulässig, wenn der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch öffentliche Hilfen, begegnet werden kann.
(2) Die gesamte Personensorge darf nur entzogen werden, wenn andere Maßnahmen erfolglos geblieben sind oder wenn anzunehmen ist, daß sie zur Abwendung der Gefahr nicht ausreichen

[21] Christian Schrapper (1997), Seite 5

[22] Siehe auch Johannes Münder, D. Greese, E. Jordan, Dieter Kreft, Th. Lakies, H. Lauer, R. Proksch, K. Schäfer: Frankfurter Lehr- und Praxiskommentar zum Kinder- und Jugendhilfegesetz (Stand 1.4.1993). Münster 1993, Vokap 1 Rz 24ff;  siehe auch Joseph Goldstein u.a.: Diesseits des Kindeswohls, Frankfurt am Main 1982, Seite 20: „Dem Elternrecht auf Freiheit von staatlichen Eingriffen liegen zwei Absichten zugrunde. Die erste besteht darin, Eltern die ungestörte Gelegenheit zu geben, auf die sich entwickelnden psychischen und emotionalen Bedürfnisse ihrer Kinder einzugehen, damit die familiären Bande entstehen, die für das gesunde Wachstum und die Entwicklung eines jeden Kindes entscheidend sind. Die zweite Absicht, auf der dieses Elternrecht beruht, ist es, den kontinuierlichen Fortbestand von entstandenen Familienbindungen (...) zu schützen.“

[23] C. Wolfgang Müller (1994), Seite 61

[24] Johannes Münder u.a.: Frankfurter LPK-KJHG (1993), VorKap 1. 2. Das Verhältnis Minderjährige – Eltern – Jugendhilfe

[25] Zehnter Kinder- und Jugendbericht (1998), Seite 178

[26] Christian Schrapper (1997), Seite 6

[27] Johannes Münder u.a.: Frankfurter LPK-KJHG 1993, Seite 318-412

[28] Christian Schrapper (1997), Seite 6

[29] Johannes Münder u.a.: Frankfurter LPK-KJHG 1993 §50 Rz 2 und 3

[30] Johannes Münder u.a.: Frankfurter LPK-KJHG 1993 §50 Rz 7 und 8

[31] Johannes Münder u.a.: Frankfurter LPK-KJHG 1993 §50 Rz 12

[32] Johannes Münder u.a.: Frankfurter LPK-KJHG 1993 §50 Rz 12

[33] Johannes Münder u.a.: Frankfurter LPK-KJHG 1993 §50 Rz 12

[34] Johannes Münder u.a.: Frankfurter LPK-KJHG 1993 §50 Rz 12

[35] Siehe auch Zehnter Kinder- und Jugendbericht (1998), Seite 178, „Jeder (der einzelnen Leistungsbereiche nach dem KJHG, T.L.) ist auf seine Art präventiv im Sinne von vorbeugend, Schlimmeres vermeidend – selbst die Inobhutnahme nach $42, die einen weitgehenden Eingriff in die Lebenswelt des Kindes bedeutet.“ So bedarf auch „präventives Handeln konsensfähiger Standards und Kriterien (Hervorhebung, T.L.) und einer konkreten sozialen Situation mit Vereinbarungen zwischen den beteiligten Akteuren über das Ziel, das mit bestimmten Maßnahmen erreicht werden soll.“

[36] Zehnter Kinder und Jugendbericht (1998), Seite 178 „Bei der Orientierung der Jugendhilfe hin zur Dienstleistung besteht die Gefahr, dass Jugendhilfe es immer auch mit Adressatengruppen zu tun hat, die nicht in der Lage sind, ohne Unterstützung, Hilfe und eingreifende Maßnahmen ihr Leben zu führen. Hier ist die Jugendhilfe immer wieder verwiesen auf die Definition und Setzung von Normalitätsstandards (Hervorhebung T.L.), um mit den Adressaten gemeinsame adäquate Angebote erarbeiten zu können und um den Fortlauf der Hilfen überprüfen zu können.“

[37] Siehe die ganze Palette der Hilfen zur Erziehung (§§ 27-41 KJHG), die erst ausgeschöpft sein muss, bis die Anrufung des Gerichts gerechtfertigt ist.

 

 
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