Von
Sozialarbeitern wird täglich erwartet, Entscheidungen beispielsweise
hinsichtlich der Bewilligung von Hilfen zu treffen. Nach Ortmann
kann von Entscheidung innerhalb der Behörde aber erst die Rede
sein, wenn die festen „Wenn Tatbestand a-, dann tue b- Regeln“
gelockert sind. Dies ist der Fall, wenn den Mitarbeitern ein Ermessensspielraum
eingeräumt wird, beziehungsweise wenn sie innerhalb „unbestimmter
Rechtsbegriffe“ handeln können. Das KJHG bezeichnet das Kindeswohl
als einen solchen „unbestimmten Rechtsbegriff“. Unbestimmte Rechtsbegriffe sind Interpretationsfreiräume,
die der Gesetzgeber offen lässt und die aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit einer fachlichen Auslegung durch Vorschriften
der ausführenden Verwaltungsbehörde bedürfen oder durch Entscheidungen
des Verwaltungsgerichtes konkretisiert werden. Somit sind sie
normalerweise nicht der Willkür der Mitarbeiter preisgegeben.
Für den unbestimmten Rechtsbegriff Kindeswohl, konnten bei Berliner
Jugendämtern allerdings keine ausgesprochenen
Vorschriften ermittelt werden. Lediglich in einigen wenigen Fortbildungsveranstaltungen
soll der Begriff erörtert worden sein. Daraus könnte geschlossen werden, dass eine
eingehende Auseinandersetzung mit dem Begriff Kindeswohl für die
Sozialarbeit eher eine Kür als eine Pflicht darstellt.
Die
Mitarbeiter im Amt sind also bei der Auslegung des unbestimmten
Rechtsbegriffs Kindeswohl allein auf die Ausführungen des KJHGs
angewiesen. Dort findet sich der Begriff im zweiten Teil (Andere
Aufgaben der Jugendhilfe), der sich mit den staatlichen Eingriffsbedingungen
befasst, zum Beispiel im Zusammenhang der Mitwirkung des Jugendamtes
bei vormundschaftsgerichtlichen Verfahren (§50 KJHG). Das bedeutet: Der Begriff Kindeswohl spielt
im Gesetz und somit auch in der Arbeit der Sozialarbeiter erst
dann eine Rolle, wenn das praktische Kindeswohl in massiver Weise
beeinträchtigt oder beschädigt ist. Die Mitarbeiter nehmen also
hauptsächlich jene Kindeswohl-Tatbestände in den Familien wahr,
welche das Kind gefährden. Das Kindeswohl erscheint im Bewusstsein
der Sozialarbeiter nahezu ausschließlich unter dem Aspekt seiner
Gefährdung. Der Mitarbeiter sieht sich, sobald es ums Kindeswohl
geht, in einer Verteidigerposition. Eine positive Bearbeitung
des Begriffs wird dadurch sehr erschwert.
An
seinem Beispiel von offener Jugendarbeit entwickelt Ortmann, dass
die inhaltliche Arbeit des Sozialarbeiters
mit den Klienten (zum Beispiel bis auf Regelungen der Bewirtschaftung)
nicht in Verwaltungsvorschriften festgehalten ist. Dies soll auch so sein, da der Sozialarbeiter
in der konkreten und unvorhersehbaren Situation handlungsfähig
bleiben muss. Von daher ist seine Arbeit nicht auf allen Gebieten
standardisierbar. Für den Sozialarbeiter im Jugendamt gilt dies
ebenfalls für den Bereich, in dem er mit seiner Klientel kontaktet.
Für personenbezogene Dienstleistungen muss die Leistungsverwaltung
auf Personal mit selbständiger Kompetenz zurückgreifen, um die
Aufgaben erfüllen zu können.
Typisch
für die personenbezogene Dienstleistung ist, dass Leistungsempfänger
und Leistungserbringer zusammentreffen und an dem gemeinsamen
Leistungsvorgang mitwirken müssen. Diese Beziehung basiert in
der Regel auf persönlichem Vertrauen, welches rechtliche und verfahrensmäßige
Offenheit im Verlauf und Ergebnis zur Voraussetzung hat. So ist
nach Ortmann die personenbezogene Dienstleistung, und als solche
ist die Arbeit des Sozialarbeiters im Jugendamt zu verstehen,
nicht streng rational programmierbar, sondern lediglich zweckprogrammierbar.
Es wird hierbei also keine zwingende Wenn-dann-Folge vorgegeben,
sondern es werden handlungsleitende Ziele festgelegt und operationalisiert.
Der Sozialarbeiter kann dann seinerseits zwischen verschiedenen
Möglichkeiten wählen, diese Ziele zu erreichen. Im Bereich der
Hilfengewährung sollte das Verfahren also zumindest aus Gründen
der angemessenen Leistungserbringung zweckprogrammiert sein.
Ortmann
stellt allerdings fest, dass in der Arbeit mit Jugendlichen und
Kindern (seinem Beispiel der offenen Jugendarbeit entsprechend)
Ziele wie „Integration Jugendlicher“ oder Kompensation von Sozialisationsdefiziten
von zu hohem Allgemeinheitsgrad wären, als dass sie handlungsleitend
wirken könnten. „Vielmehr müssen die Ziele der offenen Jugendarbeit
– und das gilt in entsprechender Weise für viele andere Bereiche
der sozialen Arbeit – situationsspezifisch konkretisiert werden,
um im Rahmen eines Zweckprogramms handlungsleitend wirksam werden
zu können. Anders formuliert: Die Behörde bedarf in den Fällen,
in denen sie sozialarbeiterische personenbezogene Dienstleistungen
erbringen will, bereits für die Zweckprogrammierung die Hilfe
der professionellen sozialwissenschaftlichen Kompetenz von den
(verwaltungsangehörigen) Sozialarbeitern, um die Ziele hinreichend
fundiert formulieren zu können. Sozialarbeit als personenbezogene
Dienstleistung kann also nicht allein ausführende Tätigkeit sein,
sondern sie muss zugleich auch bei der Zielfixierung im Rahmen
der Zweckprogrammierung mitwirken.“ Neben der Praxis sollen die Sozialarbeiter
auch den theoretischen Rahmen der Verwaltungsziele inhaltlich
absichern.
In
der Literatur gibt es jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass eine
Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs Kindeswohl oder
die nach Ortmann notwendige Konkretisierung der sozialen Arbeit
im Sinne einer Zweckprogrammierung durch die Sozialarbeiter im
Jugendamt stattfindet. Gründe könnten einmal Probleme mit dem
zeitlichen Budget sein. Die öffentliche Hand versucht, ihre Finanzen
zu sanieren; überall werden Stellen eingespart. Viele Sozialarbeiter
werden sich darauf konzentrieren, vor allem ihre „Fälle“ abzuarbeiten.
Außerdem könnte es in den Ämtern eher eine praktische Orientierung
der Mitarbeiter geben, die theoretische Auseinandersetzungen in
den Hintergrund drängt.
„Der Sozialpädagoge
muß (...), um sinnvoll handeln zu können, die Probleme des Einzelfalls
bzw. der einzelnen Situation, die jeweils in ihrer spezifischen
Art einmalig ist, verstehen, um situationsangemessen handeln zu
können. Darüber hinaus muss der Sozialpädagoge dann seine professionellen
Kenntnisse der Theorie der Jugendarbeit auf die besonderen Bedingungen
des Einzelfalls anwenden. In dieser spezifischen Tätigkeit entsteht
(...) eine Verknüpfung von Fall- beziehungsweise Situationsverstehen
und Theorieverstehen und -anwenden.“
Ortmann
nimmt also an, dass das Fallverstehen nicht nur das Erkennen dessen,
was der Einzelfall ausmacht bedeutet, sondern ein Verstehen der
sozialen Einheit, auf die sich die Sozialarbeit als handelnde
richtet. Die Möglichkeit, in einer solchen Situation helfend zu
reagieren, erhält der Professionelle im Idealfall regelmäßig durch
sein Theorieverstehen.
Von
Popper entlehnt Ortmann andererseits, dass die Erkenntnis, was
die Realität beziehungsweise was der Fall ist, abhängig ist von
den theoretischen Vorstellungen desjenigen, der die Realität wahrnimmt.
Ortmann vergleicht infolge dessen zwei verschiedene Theorieansätze, wobei er sogleich die empirisch-analytische
Theorieauffassung für die Sozialarbeit als ungeeignet verwirft.
Erstens ist soziale Arbeit dafür nicht ausreichend operationalisierbar,
zweitens sind die statistischen Gesetzmäßigkeiten, mit denen die
Theorie arbeitet, nicht strikt auf den Einzelfall beziehbar und
vor allem drittens erfolgt die Steuerung der Prozesse durch diese
Theorie ohne Einbeziehung der Betroffenen und wirkt von daher
manipulierend auf dieselben ein, was nicht nur berufsethischen
Grundsätzen zuwider läuft, sondern von den Betroffenen häufig
auch bemerkt und mit Verweigerung quittiert wird.
Ein
kritisch-hermeneutischer Theorieansatz hingegen eignet sich nach
Ortmann, wobei er vor allem die Psychoanalyse zu Grunde legt,
sehr für das Fallverstehen. Ohne seine kurzen Ausführungen der
Wirkungsweise der Psychoanalyse nochmals verkürzt darzustellen, sollen doch
seine Ergebnisse für die Sozialarbeit zusammengefasst werden.
Eine
Veränderung im Handeln und im Verhalten der Betroffenen wird in der Psychoanalyse durch einen Bewusstwerdungsprozess
bei diesen erreicht. Der Sozialarbeiter kann nach seinen theoretischen
Kenntnissen über die Zusammenhänge mit seiner Klientel einen Bewusstwerdungsprozess
dieser Art anleiten, so dass die angebotenen Lösungsmuster für
die Betroffenen annehmbar werden können. „(...) hier erhält die
Theorie ihre ,Wahrheit‘ genau in diesem Prozess der Auseinandersetzung
zwischen Sozialarbeiter und Klient beziehungsweise Jugendlichen
(...)“ und nur über diesen Weg können die Hilfeangebote
effektiv wirksam werden. Hier resümiert Ortmann für die Wahrnehmung
der Realität, „dass unterschiedliches Theorieverständnis auch
die Welt in einem unterschiedlichen Licht erscheinen lässt: Sie
stellt sich dem Beobachter nämlich unterschiedlich dar, je nachdem,
ob er in ihr nach Gesetzmäßigkeiten sucht, die er für die technologisch-steuernde
Veränderung nutzen kann, oder ob er versucht, Verständigung zwischen
sich als Sozialarbeiter und seinem Klientel herbeizuführen mit
dem Ziel, bei diesem Klientel Bewusstwerdungsprozesse, die ein
verändertes Handeln ermöglichen können, zu unterstützen und zu
initiieren.“
Für
den Begriff Kindeswohl ist die unterschiedliche theoretische Perspektive
beziehungsweise die unterschiedliche Wahrnehmung nicht unerheblich.
Abgesehen von der notwendigen Mitarbeit der Klienten beziehungsweise
der Eltern werden die Theorieansätze auch unterschiedliche Arbeitsergebnisse
hervorbringen, welche zur Grundlage der Entscheidungen gemacht
werden. Wird die Zusammenarbeit vernachlässigt, sei es, dass den
Eltern ein Verständnis der Problematik nicht zugetraut wird oder
ein allgemeines Misstrauen vorliegt, so ist abzusehen, dass Sozialarbeiter
und Eltern bald gegeneinander arbeiten.
Ortmann
räumt ein, dass das Theorieverständnis nicht immer in der geforderten
Differenziertheit handlungsleitende Impulse bieten kann. So führt
er das Alltagswissen und ‑erfahrung ein, welche die Lücke
im professionellen Handeln schließen können. Diese sind nach Ortmann durch die Ausbildung
der Sozialarbeiter mit „wissenschaftlichem Wissen“ durchsetzt und bedeuten von daher keine willkürliche
Ergänzung des professionellen Handelns.
Auch
in den beiden von Ortmann gewählten Varianten des Fallverstehens
spiegelt sich das Dilemma der Sozialarbeiter im Jugendamt wider:
Der empirisch-analytische Theorieansatz entspricht den Anforderungen
an korrekte Verwaltungsakte, wird aber nicht den vielfältigen
Lebensumständen der Klienten gerecht. Der hermeneutische Ansatz
verbessert zwar das Fallverstehen, scheitert aber an der verwaltungstechnisch
notwendigen Rationalisierbarkeit. Hinzu kommt, dass auch letzterer
nicht immer vollkommen für das Fallverstehen ausreicht, und der
Sozialarbeiter auf sein Alltagswissen und seine Erfahrungen zurückgreifen
muss. Daraus ergeben sich für die Realisierung von Kindeswohl
zweierlei Abhängigkeiten: erstens von dem theoretischen Hintergrund
des Sozialarbeiters und zweitens von seinen individuellen Erfahrungen
und seinem Alltagswissen.
Da
die Sozialarbeit im Jugendamt sowohl beratend Hilfe leistet, als
auch verpflichtet ist das Wächteramt auszuüben, müssen an den
Datenschutz besondere Maßstäbe angelegt werden. Die speziellen
Probleme, die der Datenschutz in der Jugendamtsarbeit bereitet,
sind im KJHG berücksichtigt und geregelt.
Münder
u.a. sehen in ihrem Gesetzeskommentar den Sinn des § 65 KJHG in
der Berücksichtigung der besonderen Sensibilität von Jugendhilfedaten,
welche zum Zweck persönlicher und erzieherischer Hilfe anvertraut
worden sind. „Der Gesetzgeber will damit ‚sicherstellen, daß Erkenntnisse
aus der Beratungstätigkeit nicht bei der sonstigen Aufgabenerfüllung
der Jugendämter verwertet und möglicherweise gegen die Beratenden
verwendet werden‘ (Bundesbeauftragter für den Datenschutz 1989,63).“ Es müssen nicht nur solche Informationen aus
Beratungsgesprächen vertraulich behandelt werden, welche ausdrücklich
unter dem Siegel der Verschwiegenheit gegeben werden, „sondern
auch die, die der Beratungsperson allein deshalb bekannt werden,
weil die persönlich vertrauliche Beratungssituation besteht.“ „Zielt der Arbeitskontakt des Mitarbeiters
mit dem Betroffenen eindeutig und für diesen erkennbar auf eine
Informationsbeschaffung für andere Mitarbeiter (z.B. zum Zweck
der Gewährung von Sach- und Geldleistungen), kann nicht davon
ausgegangen werden, daß die Daten anvertraut wurden.“
Die
sensible Handhabung des Datenschutzes ist für die sozialarbeiterische
Tätigkeit notwendig, da sie entscheidend für die vertrauensvolle
Zusammenarbeit mit den Sorgeberechtigten sein kann. Erst in der
Zusammenarbeit kann der Sozialarbeiter die entscheidenden Informationen
über die Probleme der Familie gewinnen, die es ihm ermöglichen,
auch sein Wächteramt gewissenhaft auszuüben. So ist nach §65 Abs.
2 der Sozialarbeiter bei Anrufung des Gerichtes nur dann berechtigt
personenbezogene Daten ohne Einwilligung dessen, der die Daten
anvertraut hat, mitzuteilen, wenn ohne diese Mitteilung angesichts
der Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen eine für
die Gewährung von Leistungen (zum Beispiel Fremdunterbringung)
notwendige gerichtliche Entscheidung nicht ermöglicht werden könnte. Es ist leicht vorauszusehen, dass eine Anwendung
dieses Mitteilungsrechtes die Zusammenarbeit des Sozialarbeiters
mit den Eltern in eine schwere Krise stürzen kann, welche eventuell
für das Kind oder den Jugendlichen einen ersten Schritt zur Trennung
von seiner Ursprungsfamilie bedeutet. Der Sozialarbeiter sollte
sich darüber im Klaren sein, dass sein Entschluss, ohne Kenntnis
der Beteiligten Recherchen durchzuführen, sowie diese oder von
den Beteiligten selbst gesammelte Informationen ohne deren Kenntnis
für gerichtliche Entscheidungen zur Verfügung zu stellen, einen
schwerwiegenden Eingriff in die Familie bezüglich ihrer Glaubwürdigkeit
und Verantwortlichkeit für die Kinder bedeutet. Er muss damit
rechnen, im Folgenden keine freiwillig gegebenen Informationen mehr von der Familie zu erhalten. Mit einer solchen
Entscheidung zum Alleingang muss an sich auch die fachliche Entscheidung
auf Trennung der Kinder von ihren Eltern, als letzte Möglichkeit,
die Gefährdung des „Kindeswohls“ abzuwenden, bereits getroffen
worden sein, beziehungsweise sie kommt einer entsprechenden fachlichen
Entscheidung gleich.
An
eine solche fachliche Entscheidung sind strenge Kriterien gekoppelt.
Der Sozialarbeiter muss sich sicher sein, dass seine Möglichkeiten
an Hilfen (insbesondere die Hilfen zur Erziehung gemäß §§ 27 ff
KJHG) nicht mehr eine dem Wohl des Kindes gemäße Erziehung gewährleisten.
Er muss sich sicher sein, dass das Kindeswohl nur noch durch einen
Eingriff des Vormundschaftsgerichtes (Sorgerechtsentzug oder Einschränkung
für eine Fremdunterbringung) gewährleistet werden kann. Er hat
vor der Anrufung des Gerichtes zu prüfen, ob alle folgenden vier
Tatbestandvoraussetzungen erfüllt sind: „1. Die Gefährdung des
geistigen, körperlichen oder seelischen Kindeswohls muss konkret
erkennbar sein oder unmittelbar bevorstehen; 2. ursächlich dafür
muss ein aktiver Missbrauch des Personensorgerechts oder eine
Vernachlässigung des Kindes oder ein unverschuldetes Versagen
der Eltern sein; 3. Die Eltern müssen nicht gewillt oder in der
Lage sein, die bestehende oder bevorstehende Gefährdung des Kindeswohls
selbst abzuwenden und 4. müssen konkrete Maßnahmen geeignet oder
notwendig und im Eingriff verhältnismäßig sein, um die Gefährdung
abzuwenden.“ Während der Sozialarbeiter bei seiner Mitwirkung
an Familiengerichten (Scheidungen mit Sorgerechtsregelungen) seine
Zusammenarbeit mit den Eltern schützen kann, indem er auf eine
Beurteilung der Familienbeziehungen vor Gericht verzichten kann
und sollte, so muss er bei Gefährdung des „Kindeswohls“ für die
Begründung seiner Anrufung des Gerichts eine wertende Aussage
zum Missbrauch oder Vernachlässigung der Kinder durch oder insgesamt
zum Versagen der Eltern abgeben.
Die
Beurteilung von Daten und Informationen, ob eine schwere Gefährdung
des „Kindeswohls“ (Tatbestand 1) vorliegt oder ob die Eltern das
Kind „nur miserabel erziehen“, führt der Sozialarbeiter aufgrund seiner
fachlichen sozialpädagogischen Kenntnisse durch. Diese fachlichen
Kenntnisse sollten ihn in die Lage versetzen, einen vorhandenen
Zusammenhang von Beeinträchtigung des „Kindeswohls“ und eines
aktiven Sorgerechtsmissbrauchs beziehungsweise einer Vernachlässigung
durch die Eltern ursächlich zu begründen (Tatbestand 2). Die Beurteilung,
ob oder zu welchem Zeitpunkt die Eltern nicht oder nicht mehr
gewillt sind, eine Gefährdung von ihrem Kind abzuwenden (Tatbestand
3), obliegt keiner besonderen Fachlichkeit; vielmehr zeigt sich
diese Einstellung in der Regel in einem Abbruch des Kontaktes
mit dem Sozialarbeiter. Der Sozialarbeiter ist an dieser Stelle vor
allem in seiner Fähigkeit gefordert, Kontakt mit der Familie zu
erhalten, den Familienmitgliedern Zusammenhänge und Begründungen
zu vermitteln und Hindernisse für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit
mit ihnen aus dem Weg zu räumen. Die Beurteilung der konkreten Maßnahmen, inwieweit
sie geeignet und verhältnismäßig sind (Tatbestand 4), ist abhängig
von den Kenntnissen des Sozialarbeiters auf dem Gebiet der verschiedenen
Jugendhilfeeinrichtungen. Die sensible Handhabung des Datenschutzes
ist für die Sozialarbeit also nicht nur eine Beschränkung der
Handlungsmöglichkeiten, sondern bildet erst die Grundlage für
eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Eltern.
Die
neuere Debatte, die Mitte der 90-er Jahre um die Umstrukturierung
des Jugendamtes geführt wurde, und welche dessen Umbau zu einer
effizienten Dienstleistungsbehörde erfordert, wirft ein neues
Licht auf die Bedingungen für Kindeswohl.
„Neue Steuerung“, „neue Fachlichkeit“, „Kundenorientiertheit“,
„Produktorientiertheit“, „Output-Orientiertheit“, „Budgetierung“
und „Controlling“ sind die aus der modernen Betriebswirtschaft
entlehnten Leit-Vokabeln für die
Umstrukturierung des Jugendamtes in eine effiziente und
transparente Dienstleistungsbehörde seit Anfang der 90er Jahre.
Die Debatte um die Umstrukturierung erhielt nicht zuletzt ihre
Triebkraft aus dem Kontext politischer Finanzrestriktionen der
kommunalen Haushalte mit entsprechenden Sparüberlegungen. Aber,
so Merchel, dies allein wäre eine verkürzte und einseitige Sichtweise,
da im internationalen Vergleich ein Modernisierungsrückstand der
deutschen Kommunalverwaltungen festgestellt werden konnte. Die Frage drängt sich auf, ob es gelungen
ist, Modernisierung und Sparmaßnahmen in ein Verhältnis zueinander
zu stellen, so dass die Aufgaben öffentlicher Verwaltungen in
zufriedenstellender Weise erfüllt werden können und gleichermaßen
den gestiegenen Ansprüchen, an der Einlösung fachlicher Standards
und dem stärkeren Eingehen auf die Bedürfnisse der Adressaten
entsprochen wird?
Merchel
plädiert dafür, sich als Sozialarbeiter intensiv mit dem Modell
der „Neuen Steuerung“ auseinander zu setzen, da sich auch die
Jugendhilfe dem Anspruch, wirtschaftlich effektiv in Zielbezogenheit
und Qualität und effizient im Einsatz der Ressourcen zu sein,
stellen muss. „Neue Steuerung“ verspricht, so Merchel, die
Chance, in angemessener Weise den Adressaten, Hilfe zu leisten,
was durchaus ein Weg sein kann, sich um das Kindeswohl zu bemühen.
Die
„Neue Steuerung“, wie sie die Kommunale Gemeinschaftsstelle für
Verwaltungsvereinfachung (KGST) vorschlägt, sieht unter anderem vor, die Motivation,
Mitwirkungsbereitschaft und das Bewusstsein von Verantwortung
bei den Mitarbeitern in diesem Sinne zu fördern. Dies soll erreicht
werden, indem zentrale und hierarchische Strukturen abgebaut werden,
was insbesondere den Problemen der Kindeswohlrealisierung zugute
kommen könnte, die sich aus den Schwierigkeiten der Verwaltungskommunikation
ergeben (siehe oben Seite 18). Die
dezentralen Organisationen vereinbaren sogenannte Kontrakte über
die zu erreichenden Ziele, die als Instrumente der Mitarbeiterführung
steuernd und motivierend wirken sollen. Die Kontrakte sind zugleich
Grundlage für die Zuteilung eines Budgets, welches die Organisationen
selbst verwalten und von daher flexibler und verantwortungsvoller
einsetzen können. Hier findet also eine engere Verkopplung von
fachlicher Entscheidungskompetenz und Verantwortung für Ressourcen
statt. Für die Tätigkeit des Sozialarbeiters bedeutet
dies überspitzt gesagt, dass er seine fachliche Entscheidung in
Beziehung zu seiner Verantwortung für das Budget seiner Dienststelle
setzen muss.
Die
Qualität der Hilfen soll in Zukunft an dem sogenannten „Output“
gemessen und bewertet werden. Outputorientierung bedeutet in der
Jugendhilfe in erster Linie Kundenorientierung. Das heißt, die
Hilfen werden nach der beim Kunden ankommenden Qualität bewertet
und bewilligt. Die Hilfeträger stehen hierbei im Wettbewerb miteinander
diese Qualität, je nach Spezialisierung, am kostengünstigsten
anbieten zu können. Nach dem Modell der Outputorientierung bestände
gute Sozialarbeit darin, aus den vielfältigen vergleichbaren Jugendhilfeangeboten
die Variante zu ermitteln, die gleichzeitig am kostengünstigsten
ist und dabei den Wünschen und Vorstellungen der Klienten am meisten
entspricht. Sie ist in der Hauptsache einerseits darauf beschränkt,
eine gründliche Kenntnis über die Hilfeangebote und ihre Effizienz
für die Kunden zu besitzen; andererseits auf die fachliche Fähigkeit,
zusammen mit den Kunden festzustellen, was ihr tatsächlicher Bedarf
an Hilfe ist. Johannes Münder bezeichnet, den in dieser Weise
tätigen Sozialarbeiter treffend als einen „Verbraucherschützer“
für den sozialen Bereich.
Dass
es sich bei der Sozialarbeit um mehr als um die Bedienung eines
bestimmten Marktes handelt, lässt sich schon mit Hilfe der weiteren
Ausführungen von Merchel darstellen. Analytisch gesehen kann,
so Merchel, der Kundenbegriff nicht auf die Jugendhilfe übertragen
werden, da die Adressaten der Jugendhilfe nicht gleichzusetzen
sind mit souveränen Subjekten, welche über einen Markt ihre Bedürfnisse
zu befriedigen suchen. Vielmehr hat die Jugendhilfe neben der
Dienstleistungsfunktion auch einen gesellschaftlichen Normalisierungs-
und Kompensationsauftrag. Nur zu einem bestimmten Anteil sind
die Adressaten der Jugendhilfe als Kunden zu bezeichnen, nämlich
dann, wenn sie sich von sich aus an die Institution wenden und
ihre Wünsche formulieren. Zu einem großen Teil kommen die Hilfeleistungen
jedoch nur durch fachliche und sozialpolitische Plausibilitätskontrollen zustande und die sogenannten „Kunden“ müssen
großenteils erst dazu bewegt werden, Angebote anzunehmen. In den
meisten Fällen müssen sie ihre Bedürfnisse erst mit Hilfe der
Sozialarbeiter formulieren. Kron-Klees weist darauf hin, dass
sich die Adressaten gegenüber dem Jugendamt nicht nur in einer
sogenannten „Komm-Struktur“ verhalten, also von sich aus sich
hilfesuchend ans Jugendamt wenden, sondern sich auch sehr häufig
und gerade in schwierigen Fällen in der sogenannten „Geh-Struktur“
verhalten und das Jugendamt von selbst aktiv werden muss. Nicht zuletzt besteht für die Jugendhilfe
der gesellschaftliche Auftrag des Schutzes der Kinder und Jugendlichen,
welcher sich nicht mehr in Handlungen mit Dienstleistungscharakter
umdefinieren lässt. Von daher ist der Kundenbegriff für die Jugendhilfe
nur unzulänglich.
Eine
Bereicherung für die Jugendhilfe sieht Merchel aber im metaphorischen
Gehalt des Begriffs „Kunde“. Er lenkt nämlich die fachliche Aufmerksamkeit
auf die Bedeutung von Adressatenwünschen und die beim „Kunden“
ankommende Qualität einer Leistung. So hat er einen großen Irritationswert
für die fachliche Diskussion und führt zur Überprüfung traditioneller
sozialpädagogischer Denkmuster. Er konfrontiert professionelle
Fachkräfte mit der Frage: „Glaube ich im Einzelfall besser zu wissen, was für den Adressaten gut
ist, und wenn ja, mit welchem Recht will und darf ich meine Perspektive
durchsetzen?“ Wenn diese Form der Kundenorientierung den
allseits stark psychisch involvierten Begriff des Helfens zumindest teilweise ablösen könnte, besteht
die Chance, dass Sozialarbeiter davor bewahrt bleiben, sich zu
sehr in einen von den Interessen der Familien abgekoppelten „Helferaktivismus“ hineinsteigern und die Eltern zu Maßnahmen
zu überreden, die nicht angenommen oder gewürdigt werden
oder gar zu einer offenen Ablehnung von Hilfen überhaupt führen
können. Vielmehr „muß den Leistungsberechtigten gegenüber klargestellt
werden, daß die Entscheidung über die Hilfe nicht in dem Beratungsgespräch
unter den Fachkräften getroffen wird, sondern das zentrale Geschehen
in dem Aushandlungsprozeß zwischen Fachkraft und Leistungsberechtigten
zu sehen ist.“ Auf diese Weise wird ein Eingriff gegen den
Willen der Familie fast undenkbar.
Betrachtet
werden sollten die Abhängigkeiten des „Kindeswohls“ unter den
Bedingungen des Jugendamtes als Leistungs- und Eingriffsbehörde.
Die zentrale Frage dabei ist: Kann das Jugendamt seinen helfenden
und schützenden Aufgaben in Bezug auf das Kindeswohl optimal gerecht
werden?
Der
Begriff Kindeswohl ist bei Entscheidungen des Jugendamtes gleichermaßen
legitimierend für Hilfen und Eingriffe. Dabei sind die Handlungsfelder
des Amtes begrenzt, da es sich in einer Zwickmühle zwischen notwendigem
Verwaltungshandeln und sozialpädagogisch motiviertem Handeln befindet.
Auch kann das Jugendamt, so wie es strukturiert ist, bei der Bearbeitung
seiner Fälle prinzipiell nicht präventiv tätig werden. Seine Arbeitsfelder
finden zudem in gesetzlichen Vorgaben enge Grenzen. Hinsichtlich
der konsequenten Wahrnehmung von Kindeswohlgefährdung ist das
Jugendamt aus der Perspektive des Kindes kein zuverlässiges Instrument.
Die
Kommunikation innerhalb der Verwaltung ist an vielen Stellen wenig
geeignet, die Komplexität der Familienproblematiken ausreichend
umfassend an die nächste Hierarchieebene weiterzugeben. Die dabei
auftretenden Schwierigkeiten können nicht durch eine Reduzierung
der Informationen in sachdienlicher, juristischer Weise erreicht
werden. Die Umstrukturierungen des Jugendamtes in dezentrale Einheiten
und der gleichzeitige Abbau von Hierarchieebenen versprechen ein
Verminderung des Problems. Allerdings könnten die Kopplung von
Fachkraft und Budgetverantwortlichen die Realisierung von Kindeswohl
dahingehend beeinträchtigen, dass kostenintensive aber fachlich
notwendige und erwünschte Hilfemaßnahmen gar nicht erst in Betracht
gezogen werden.
Sozialarbeit
ist eine Dienstleistung, die nicht einfach zweckrationalisierbar
ist, da sie in der Begegnung mit den Klienten ein Vertrauen herstellen
muss. Eine Konkretisierung von Kindeswohl, die handlungsanleitend
wirken könnte, sollte von Sozialarbeitern erarbeitet werden.
Eine solche Erarbeitung konnte nicht festgestellt werden, sondern Kindeswohl tritt erst im Sinne von
Kindeswohlgefährdung auf.
Für
die Ergebnisse von Kindeswohlrealisierung ist es wichtig, welcher
Theorie der Sozialarbeiter anhängt. Alltagswissen und –handeln
sind unverzichtbar für Sozialarbeit. Ortmanns Ausführungen, dass
unterschiedliche Theorieansätze bei den Sozialarbeitern zu unterschiedlichen
Arbeitsergebnissen führen, werden auf Seite 51 entlang
der Debatte zum §36 KJHG (Beteiligung am Hilfeplan) wieder aufgenommen.
Hierbei sollen zweierlei Theorieansätze erörtert werden: Der eine
wird von der Partei der „Diagnostiker“ vertreten und der andere
von der der „Aushandlungsbefürworter“.
Der
Datenschutz ist in der Sozialarbeit besonders gefährdet durch
die doppelte Struktur der Sozialarbeit: einerseits vertrauliche
Gespräch in der Beratung durchzuführen, andererseits Informationen
für Entscheidungen zur Familiensituation zu sammeln. Die Bewertung
der Vertraulichkeit muss vom Mitarbeiter selbst vorgenommen werden.
Gerade der Bereich der Beschaffung und Behandlung von Daten und
Informationen stellt einen wichtigen Freiraum in der sozialarbeiterischen
Tätigkeit dar.
Für
die Herstellung von Kindeswohl ist scheinbar die Organisierung
über die Doppelstruktur des Jugendamtes die denkbar schlechteste
Möglichkeit. Aber was wäre damit gewonnen, wenn diese Doppelstruktur
auf zwei Instanzen (eine Hilfeinstanz und eine Eingriffsinstanz)
aufgeteilt wäre? Abgesehen davon, dass die Fälle doppelt aufgenommen
werden müssten, stünde die leistungsbringende Instanz gegebenenfalls
immer noch vor der Frage, löst sie die Probleme auf eigenem Wege
oder zeigt sie diese der Eingriffsinstanz an?
Die
Umstrukturierung des Jugendamtes hat gezeigt, dass die Entwicklung
weg vom Wächteramt weitergeführt wird. Die „Kundenorientierung“
und „Output-Orientierung“ sind Chancen, übertriebenen „Helferaktivismus“
zu reduzieren und das Augenmerk mehr darauf zu legen, was die
Adressaten als Hilfen brauchen, akzeptieren und honorieren können.
Kindeswohl ist von nun an abhängig davon, wie die Eltern im Rahmen
ihrer Freiwilligkeit zu Veränderung ihrer Lebensweise beitragen
wollen und wie sie vom Jugendamt darin gefördert werden. Die Eingriffskomponente
des Jugendamtes wird dabei in den Hintergrund gedrängt.
Da
keine für die praktische Sozialarbeit im Jugendamt verwertbare
Konkretisierung des „Kindeswohls“ feststellbar ist, soll mit Hilfe
des Begriffs der „Kindeswohlgefährdung“ eine Klärung versucht
werden.