Da der Versuch, den Begriff Kindeswohl zu konkretisieren,
bisher in eine Sackgasse geführt hat, soll nun über sein Gegenteil,
nämlich die „Kindeswohlgefährdung“, die weitere Erörterung stattfinden.
Die Literatur hierfür ist umfangreicher, und es beteiligen sich
Juristen sowie Psychologen als auch Mediziner und Sozialpädagogen.
Anhand der grundlegenden Arbeiten von Joseph Goldstein, Anna Freud
und Albert J. Solnit soll nun diskutiert werden, ob der Begriff
Kindeswohl zufriedenstellend durch die Reduzierung oder die Abwehr
seines Gegenteils, nämlich der Kindeswohlgefährdung, gewonnen werden
kann.
Die drei Titel „Jenseits des Kindeswohls“ (1973),
„Diesseits des Kindeswohls“ (1982) und „Das Wohl des Kindes“ (1986)
von Joseph Goldstein u.a. eignen sich zum Einstieg in die inhaltliche
Debatte von „Kindeswohlgefährdung“ erstens, weil sich spätere Autoren
zwar teilweise kontrovers, aber doch immer wieder auf diese Thesen
beziehen
und zweitens, weil die Autoren, wie diese einleitend bemerken, als
erste den interdisziplinären Versuch starteten, Eingriffe in die
Familie gleichzeitig juristisch, medizinisch und psychologisch zu
analysieren.
Vor allem aber sind hier, wie im Folgenden ausgeführt
wird, die extremen Positionen der „am wenigsten schädlichen Alternative“
bei Scheidungen und die des „minimalen staatlichen Eingriffes“ in
die Familie als Richtlinien für Kindeswohl entwickelt worden. Goldstein
u.a. haben damit Maßstäbe gesetzt und sowohl die Rechtsprechung
als auch die Arbeit in den Jugendämtern sehr beeinflusst.
Nachteil dieser Texte ist, um es vorwegzunehmen,
dass sich die Autoren auf Fälle beziehen, die bereits zu Gerichtsverfahren
geführt hatten. Da es in dieser Arbeit jedoch im dritten Teil hauptsächlich
darum gehen soll, wie Sozialarbeit aussehen muss, damit es zu dieser
Art oder Phase von Auseinandersetzungen gar nicht erst kommt, werden
die juristischen Aspekte lediglich im Ansatz benannt. Die im Folgenden
aufgestellten Prämissen der Autoren sollten aber im sozialarbeiterischen
Handeln im Sinne des Kindeswohls Berücksichtigung finden.
Obwohl es als Rückschritt im Gedankengang der
Arbeit erscheint, soll an dieser Stelle ein Begriff von Kindeswohl
dargestellt werden, wie ihn Goldstein u.a. aus entwicklungspsychologischer
Sicht formulieren. Erstens, weil hiermit der von der Jugendhilfe
eingeschlagene Weg, die Zusammenarbeit der Eltern zu suchen und
diese in ihrer Erziehung zu unterstützen, als notwendig für die
Realisierung von Kindeswohl begründet wird. Zweitens, weil das anschließend
dargestellte Prinzip des Eingriffs nach „minimalen Kriterien“ unverständlich
bliebe.
Mit „Jenseits des Kindeswohls“ (1973) möchten
die Autoren ihren Lesern die psychologische Entwicklung des Kindes
näher bringen und wie Trennungen aus der Kindesperspektive wahrgenommen
werden. Mit Hilfe psychoanalytischer Erkenntnisse wird das besondere
Zeitverständnis
von Kindern in unterschiedlichen Altersgruppen in Verbindung mit
deren Fähigkeiten zum Triebaufschub und deren Möglichkeiten, elterliche
Imagines
in sich aufrecht zu erhalten, dargestellt.
Kleinkinder können elterliche Imagines nur wenige
Tage und Wochen aufrecht erhalten, ohne dass die konkreten Personen
verfügbar sind. Das macht sie von den Eltern in höchstem Maße abhängig.
Ein Wechsel der Bezugsperson führt zu einer generellen Herabsetzung
der späteren Bindungsfähigkeit mit der Folge von Gefühlsarmut im
Erwachsenenalter. Bei Schulkindern führt eine Trennung häufig dazu,
dass bereits erworbene Fähigkeiten wieder aufgegeben werden. Bei
Pubertierenden wurde beobachtet, dass eine Trennung die Ablösung
von Autoritäten und ihre Verselbständigung unterstützen kann, falls
nicht schon Entwicklungsdefizite beim Jugendlichen vorliegen. Kritisch
anzumerken ist, dass diese Form von Ablösung allerdings eher an
ihnen vollzogen wird, als dass sie ein Ausdruck ihrer eigenen Ablösungsbestrebungen
ist. Dies stellt eine nicht unerhebliche Störung in der notwendigen
Autonomieentwicklung dar.
Vor allem das kleine Kind benötigt souveräne
und für sein Erleben allmächtige Vorbilder, damit es sich sicher
fühlen kann. Es braucht Objekte, an denen es seine Zuneigung und
seine Aggressionen gefahrlos äußern kann und von denen es aktive
Hilfe erhält, sein Triebleben in Bahnen zu lenken.
Äußere Bedingungen können von kleinen Kindern nicht als objektive
wahrgenommen werden, sondern werden aufgrund entwicklungsbedingter
magischer Allmachtsvorstellungen als selbst verursacht empfunden.
Die Kinder, welche das Unglück einer Trennung von den Eltern erleiden
müssen, geben sich in der Regel selbst die Schuld und stürzen in
große Hilflosigkeit und Verzweiflung.
Zur Verarbeitung traumatischer Ereignisse, wie es Trennungen und
familiäre Konflikte sind, benötigen sie eine besonders zuverlässige,
souveräne und dauerhafte Begleitung, die gerade in Krisensituationen
verloren geht.
Mit jeder neuen Trennung und jedem neuen Wechsel
(auch ein Wechsel zurück in die Herkunftsfamilie) der Bezugsperson
reduziert sich auch die Fähigkeit des Kindes, eine tiefere Bindung
einzugehen.
Hier sind vor allem Richter aufgefordert, schnell und auf Dauer
zu entscheiden. Lange juristische Verfahren haben sich nicht als
ein Zeichen von Gründlichkeit erwiesen, sie verlängern nur die Zeit
der Unsicherheit und damit der Qual für das Kind. Unter den genannten
Aspekten muss jeder Aufschub des Verfahrens in seiner Wirkung auf
das Kind bedacht werden. Somit bewegen sich die Autoren in ihrer
Argumentation jenseits der Pole Elternrecht versus Wächteramt: Ihre
Perspektive ist es, aus den Entwicklungsbedingungen des Kindes heraus
richterliche Entscheidungen zu begründen. Das impliziert, sowohl
zugunsten der leiblichen Eltern als auch gegen sie entscheiden zu
können, ohne sich an deren ausdrücklichen Rechten zu orientieren.
Darüber hinaus werden gerichtliche Entscheidungen
von den Beteiligten häufig magisch überschätzt.
Das Gericht kann im Sinne des „Kindeswohls“ aus entwicklungspsychologischer
Perspektive nämlich nicht mehr tun, als bestehende Bindungen anzuerkennen.
Vom menschlichen Gefühlsleben aus gesehen, ist das Gesetz ein plumpes
Instrument: Es kann nur Beziehungen zerstören, aber nicht Bindungen
herstellen oder erzwingen. Es kann auch nicht in die alltäglichen
Entwicklungsbedingungen eines Kindes eingreifen. Es kann nicht die
Möglichkeiten und Varianten des Menschenlebens voraussehen, denn
dieses kann nicht in Formeln gepresst werden. Die Autoren empfehlen
daher den Gerichten, weniger ehrgeizig in den Zielen zu sein, sondern
den Schwerpunkt auf eine Beschränkung des möglichen Schadens für
das Kind aufgrund von Trennungen und Unsicherheiten zu legen.
Als Richtlinie für solche Entscheidungen stellen
Goldstein u.a. „die am wenigsten
schädliche Alternative“ vor. Diese
Formulierung macht deutlich, dass ein Kind bereits Opfer seiner
Umwelt geworden ist; sie sollte an die Stelle einer idealistischen
Suche nach dem, was wohl im Einzelfall das Kindeswohl alles sein
könnte treten. Diese realistische Überlegung kann zu einer Abkürzung
des Verfahrens beitragen.
Der Terminus „Alternative“ soll zudem darauf hinweisen, dass in
der Einzelfallentscheidung in der Regel nur sehr wenige
Möglichkeiten bestehen, auf psychische Bindungen des Kindes
in dessen Sinne Rücksicht zu nehmen.
Die Autoren sehen in der realistischen Einschätzung der wenigen
Möglichkeiten für das Kind die größte Chance, das von ihnen geforderte
Recht auf „psychologische Eltern“ herzustellen und zu sichern, um
den Kreislauf von fortgesetzter seelischer Schädigung und Elend
zu durchbrechen.
Relevant scheint in diesem Zusammenhang auch,
dass noch heute gerichtliche Entscheidungen von Sozialarbeitern
wie von Eltern überbewertet werden. Es besteht immer wieder die
Hoffnung, dass ein Richterspruch die Konflikte innerhalb der Familie
oder zwischen Familie und Jugendamt durch seine offenkundige Eindeutigkeit
auflöst. Das aber ist oftmals ein Trugschluss, da in der Regel die
Konflikte nicht nur bestehen bleiben, sondern sich meistens auf
Kosten des Kindes verschärfen; denn häufig glaubt sich eine der
Parteien durch die richterliche Entscheidung übervorteilt und fechtet
sie an. Ob also eine gerichtliche Entscheidung das geeignete Mittel
ist, dem Kind einen konfliktarmen, stabilen und sicheren Raum zu
geben, in dem es einigermaßen glücklich aufwachsen kann, daran scheinen
Zweifel mehr als angebracht.
In „Diesseits des Kindeswohls“ (1982) wenden
sich die Autoren der staatlichen Eingriffslegitimation zu und fragen:
„Wann und warum sollte die Beziehung eines Kindes zu seinen Eltern
Gegenstand staatlichen Interesses sein?“
und: „Warum und unter welchen Bedingungen sollte der Staat legitimiert
sein, in die Privatsphäre der Familie einzudringen und sich über
die Annahme elterlicher Autonomie hinwegzusetzen?“
Aus den entwicklungspsychologischen Erkenntnissen
heraus, wie katastrophal sich Trennungen von den Eltern auf die
Entwicklung der Kinder auswirken, erörtern die Autoren Kriterien
für staatliche Eingriffe mit der Zielsetzung, diese möglichst zu
vermeiden und befürworten daher eine Politik staatlicher Minimaleinmischung.
Für sie bedeutet Kindeswohl die Befriedigung des kindlichen Bedürfnisses
nach dauerhafter Pflege und Sorge und intimer Beziehung zu mindestens
einem autonomen Erwachsenen. Den Kindern darf man für ihre gesunde
Entwicklung nicht den Glauben an die Allwissenheit und Allmacht
der Eltern vorzeitig durch staatliche Eingriffe rauben.
Hiermit argumentieren die Autoren auch gegen die frühzeitige Anwendung
von individuellen Rechten des Kindes gegen seine Eltern.
Goldstein u. a. geben vier Bereiche an, in denen
sie staatliche Interventionsgründe, bei aller Mahnung, die Eingriffe
so selten und gering wie möglich zu halten, für notwendig und legitim
erachten. Der erste Bereich betrifft die Anträge von Eltern auf
Regelung des Sorgerechtes bei Trennung sowie bei Anträgen der Eltern,
in welchen sie ihre Rechte an den Kindern beenden wollen. Solche Entschlüsse
der Eltern setzen deren autonome Entscheidung voraus und gelten
von daher als eine freiwillige Bitte um staatliche Hilfe, die nicht
abgewiesen werden sollte. Der zweite Bereich betrifft strittige
Fälle bei Inpflegenahmen von Kindern. Hier plädieren die Autoren
dafür, den psychischen Eltern, welche dann in der Regel die Pflegeeltern
sind, den Vorrang zu lassen und deren Beziehung zu den Kindern zu
schützen, indem Verunsicherungen im Pflegeverhältnis beseitigt werden.
Der dritte Bereich soll im folgenden Absatz genauer dargestellt
werden, da er das Arbeitsfeld des Jugendamtes am weitreichendsten
bestimmt und die größten Unsicherheiten in sich birgt: er betrifft
den Missbrauch elterlicher Gewalt.
Die Autoren fassen darin den sexuellen Missbrauch von Kindern, Körperverletzung,
das Unvermögen der Eltern, ihre Kinder vor dem Erleiden von Verletzungen
zu bewahren, und seelische sowie körperliche Vernachlässigung zusammen.
Der vierte und letzte Bereich betrifft die Weigerung der Eltern,
lebensrettenden, medizinischen Maßnahmen zuzustimmen.
Obwohl der zuletzt genannte Bereich ethische Überlegungen von einer
relativ normalen kindlichen Entwicklung und einem lebenswerten Leben
mit einschließt, soll dieser Bereich nicht weiter erörtert werden,
da er die hier zu bearbeitende Fragestellung kaum berührt.
Die von den Autoren unter dem Missbrauch elterlicher
Gewalt subsumierten Situationen sind zumeist eindeutig und machen
eine Intervention für die Kinder zwingend notwendig. Die Autoren
nennen zuerst den Tod oder das Verschwinden der Eltern, welche versäumt
haben oder versäumen mussten, genaue Vorkehrungen für die Sorge
und Pflege der Kinder zu treffen. Hier wäre lediglich festzustellen,
ob die von den Eltern getroffenen Vorkehrungen ausreichen und zum
Wohl des Kindes akzeptiert werden können. Wenn nicht, so müsste
das Kind ohne Berücksichtigung eventueller Wünsche der Eltern und
ohne Verzögerung in staatliche Obhut genommen, das heißt dem Kind
eine Ersatzfamilie gestellt werden. Den zweiten eindeutigen Interventionsgrund
sehen die Autoren bei sexuellem Missbrauch an einem Kind, wenn die
Eltern oder der Elternteil strafrechtlich verurteilt oder infolge
einer Geisteskrankheit als im juristischen Sinne schuldunfähig angesehen
werden.
Differenziert davon wird der sexuelle Missbrauch bei nicht sichtbarer
Körperverletzung betrachtet, bei dem lediglich ein Verdacht besteht.
Die Autoren glauben, dass sich der bereits zugefügte Schaden beim
Kind durch Nachforschungen und die Einleitung der Fremdunterbringung
verschlimmern könnte, da zusätzlich die bereits gestörte Familienintegrität
weiter beeinträchtigt wird und auch kein Konsens darüber besteht,
was weniger schädlich ist.
Der dritte Interventionsgrund ist die schwere Körperverletzung an
einem Kind durch die Eltern, versuchte Körperverletzung oder wiederholtes
Unvermögen der Eltern, ihr Kind vor dem Erleiden solcher Verletzungen
zu bewahren.
Elterliche Gewaltanwendung und Vernachlässigungsschäden werden einerseits
als ein Interventionsgrund genannt, obwohl der Sozialarbeiter aus
heutiger Sicht seine Interventionsgründe differenzierter überdenken
sollte. Für die Kinder besteht andererseits grundsätzlich kein Unterschied,
denn sie befinden sich beim Missbrauch sowie bei der genannten Form
von Vernachlässigung möglicherweise sogar in Lebensgefahr und können
schwer traumatisiert kein Vertrauen mehr in die Eltern entwickeln.
Die Autoren bewerten dabei die psychische Gesundheit der Kinder
nicht am Maß ihrer sozialen Anpassung, sondern am Maß der Schwere
ihrer inneren Konflikte.
Die Autoren befürworten somit lediglich bei strafrechtlich
eindeutig verfolgbaren Vergehen der Eltern einen Eingriff in die
Privatsphäre der Familie. Für alle anderen Fälle, die in der Grauzone
zwischen zu verfolgenden Straftaten an Kindern und gerade noch gelungener
Kindheitsentwicklung
liegen, und bei denen in der Arbeit von Sozialarbeitern die größte
Unsicherheit liegt, können sie keine Hilfestellung geben. So kann
man Goldsteins u.a. Versuch, minimale Negativkriterien von Kindeswohl
zu entwickeln, auch als einen Weg bezeichnen, die eigentlichen Probleme,
wie die Anamnese, Diagnose und Intervention die der Begriff
„Kindeswohl“ den Sozialarbeitern bereitet, zu umgehen.
Allerdings könnte man eine Orientierung für sozialarbeiterisches
Handeln daraus ableiten, nämlich den Kindern Zeiten der Ungewissheit
zu ersparen. Daraus ergibt sich für die Sozialarbeit: sie muss in
erster Linie sicherstellen, dass die Kinder eine psychologische,
elterliche Bezugsperson haben. Als das größte Verdienst der Autoren
ist jedoch anzusehen, dass sie die idealistische Suche, was das
„Wohl des Kindes“ sein könnte, grundsätzlich in Frage stellen und
statt dessen ihre Überlegungen auf die realistischen Möglichkeiten
eines Kindes auf stabile Bindungen beschränken.
So plädiert auch Spiros Simitis im Anhang von
„Diesseits des Kindeswohls“ dafür, die juristische Suche nach der
Kindeswohldefinition aufzugeben; das heißt
es sollen, wenn möglich, Versuche unterlassen werden, die „natürliche“
Definitionsmacht fürs Kindeswohl der leiblichen Eltern brechen zu
wollen, und damit ihren Widerstand herausfordern, was für das Kind
jahrelange Unsicherheit in der Zugehörigkeit bedeuten kann (Rechtsstreit
über mehrere Instanzen, Gutachten usw.). Er fordert vielmehr, die
Kooperation mit den Eltern zu suchen und sich Gedanken darüber zu
machen, mit welchen Mitteln die Familie in die Lage versetzt werden
kann, Defizite auszugleichen oder Entlastungen annehmen zu können.
Es sollte den Eltern ermöglicht werden, zwischen ihren eigenen Interessen
und den Belangen des Kindes unterscheiden zu lernen und das heißt
möglicherweise auch, sich aus eigener Einsicht für eine Fremdunterbringung
für das Kind zu entscheiden. Die Gefahr bleibt dennoch, dass auch
diese Hilfen zum außerfamilialen Steuerungsinstrument werden und
dadurch die elterliche Autonomie eingeschränkt wird, da Unterstützungsmaßnahmen
sich durchaus auch als Anpassungsmittel an staatliche Verhaltenserwartungen
eignen.
Spiros Simitis entwickelt damit seinerseits ein
Ideal von Kindeswohl: Kinder brauchen also für ihre gesunde Entwicklung
autonome Eltern, welche unmittelbar auf die Äußerungen und Taten
der Kinder eingehen und eingreifen können. Jugendamt und Gericht
müssen dafür sorgen, dass das Kind solche Eltern bekommt, sei es,
dass seine leiblichen Eltern dazu befähigt werden, sei es, dass
das Kind Ersatzeltern bekommt. So sehr man aber jedem Kind wünschen
mag, zu jeder Zeit autonome und fürsorgliche Eltern zu haben, so
bieten einerseits die Familien, mit denen die Sozialarbeiter zu
tun haben, in der Regel ein ganz anderes Bild (siehe einleitende
Fallgeschichte auf Seite 5). Andererseits
muss das Jugendamt durch seine oben beschriebene
Verwaltungsstruktur geradezu an diesen hohen Ansprüchen immer wieder
scheitern, das heißt, das Kindeswohl bleibt auf der Strecke. Obwohl
Goldstein u.a. mit der „am wenigsten schädlichen Alternative“ eine
scheinbar realistische Richtlinie für richterliche Entscheidungen
zum Kindeswohl entwickelt haben, ist die dahinter stehende Idee
von Kindeswohl so unrealistisch, dass die Sozialarbeit diese nur
rudimentär verwirklichen kann.
Da auch Simitis eine mangelhafte Diskussion über
das Kindeswohl feststellt, fordert er: „Ein Kindschaftsrecht, das
sich der Ambivalenz aller Beteuerungen, das Kindeswohl wahren zu
wollen, ebenso bewußt ist wie der Notwendigkeit, seine Anforderungen
in Kenntnis der Familiendynamik formulieren zu müssen, hat keine
Wahl: Es kann den unendlich diffizilen und komplexen Sachverhalten,
die es zu regeln gilt, nur durch Bestimmungen gerecht werden, die
ihrerseits durch zunehmende Komplexität gekennzeichnet sind. Auch
und gerade deshalb ist die Diskussion über das Kindeswohl kein Reflexionsprozeß,
der fertige Rezepte anzubieten vermag, sondern eine immer wieder
aufzunehmende und stets von neuem auf ihre Ziele und Auswirkungen
hin zu kontrollierende Auseinandersetzung mit den Entwicklungs-
und Existenzbedingungen des Kindes und der Familie.“
Diese Forderung bedeutet nicht nur eine Aufforderung an die Richter,
sich für gutachterliche Stellungnahmen von entwicklungstheoretischen
als auch familientherapeutischen Ansätzen zu sensibilisieren und
fortzubilden, sondern auch eine Aufforderung an Disziplinen wie
Psychologie und Pädagogik, sich an dem Reflexionsprozess zum Kindeswohl
zu beteiligen. Andererseits macht Simitis gleichzeitig klar, dass
dieser Prozess, der die beteiligten Spezialisten immer begleiten
wird, an Komplexität zunehmen und je nach gesellschaftlicher Entwicklung
zu anderen Ergebnissen für den Begriff Kindeswohl führen wird.
Im dritten Teil der Buchreihe von Goldstein u.a.
mit dem Titel „Das Wohl des Kindes“
beschäftigen sich die Autoren schließlich mit Kriterien von professionellem
Handeln der am gerichtlichen Verfahren beteiligten Spezialisten
(Richter, Rechtsanwälte, Gutachter, Psychologen, Kinderpsychiater,
Sozialarbeiter). Kriterium für professionelles Handeln ist hier
vor allem, die Grenzen der eigenen Disziplin nicht zu überschreiten
und die fachlichen Standpunkte im Verfahren nicht mit eigenen emotionalen
Einstellungen zu vermischen, was nicht mit dem notwendigen Einfühlungsvermögen
in das Kind und die beteiligten Eltern zu verwechseln ist.
Eine emotionale Verstrickung, welche gerade für die Sozialarbeiter,
deren Arbeit immer auch eine Herausforderung ihrer Persönlichkeit
ist,
eine größere Gefahr darstellt, als vielleicht für einen Richter,
drückt sich häufig darin aus, dass sie bei der Bearbeitung des Falles
in eine quasi rettungsphantastische Elternrolle schlüpfen und ihre
Entscheidungen fällen, als wären sie die Eltern des Kindes. Goldstein
u.a. legen dar, dass dieses Verhalten eine Grenzüberschreitung der
professionellen Kompetenz bedeutet und zeigen, wie dadurch für die
Kinder schmerzliche Fehlentscheidungen gefällt werden.
Die Autoren schließen daher ihre Arbeit mit der
Mahnung ab: „Es dient dem Wohl des Kindes, wenn alle beruflich
Beteiligten anerkennen, daß sie weder einzeln noch zusammen die
Eltern – auch nicht durchschnittliche, unvollkommene Eltern – darstellen
oder ersetzen. Ihr Spezialwissen bezieht sich auf Kinder im allgemeinen;
ihre Funktion im Unterbringungsverfahren besteht darin, die Chance
jedes einzelnen Kindes zu erhöhen, daß es Eltern bekommt, die zwar
Allgemeinwissen über Kinder haben, für die aber das jeweilige Kind
etwas ganz Besonderes ist.“Die Autoren machen hiermit deutlich, dass die
einzigartige und exklusive Eltern/Kindbeziehung, und seien es auch
„nur“ Ersatzeltern für das Kind, zu schützen ist, da diese bei einer
Trennung und dem Wechsel der Bezugsperson für dieses Kind nicht
wiederholbar ist.
Die Erörterung der entwicklungspsychologischen
Perspektive in Bezug auf Ergebnisse gerichtlicher Lösungen von kindeswohlgefährdenden
Lebenslagen der Kinder hat bestätigt, dass Sozialarbeiter mit größter
Anstrengung und unter vollem Einsatz ihrer fachlichen Kenntnisse
und Fähigkeiten darauf hinarbeiten sollten, eine Anrufung des Gerichtes
zu vermeiden, das heißt den Kindern ihre psychologischen Eltern
zu erhalten.
Die Kriterien für einen minimalen staatlichen
Eingriff in die Familien können zum Beispiel dazu beitragen, dass
Trennungen, die sich in der Rückschau als ungerechtfertig herausstellen,
vermieden werden. Aber für die Sozialarbeit sind sie nur als Orientierung
an der Grenze zur Kindeswohlgefährdung hilfreich, da sie bei weniger
eindeutigen Fällen keine Orientierung bieten.
Die Anwendung der „am wenigsten schädlichen Alternative“
bei gerichtlichen Entscheidungen erscheint als ein realistisches
Konzept, den Kindern möglichst wenig zusätzliches Leid zuzufügen,
da hiermit anerkannt wird, dass dem Kind bereits Leid zugefügt wurde
und, wenn es zum Gerichtsverfahren bereits gekommen ist, im Einzelfall
nur zwischen wenigen Möglichkeiten für das Wohl des Kindes zu entscheiden
gibt. Goldstein u.a. versuchen die Perspektiven des Kindes in den
Vordergrund zu rücken und den „Streit zwischen den Erwachsenen“
um ihre Rechte zurückzudrängen.
Eine Gefahr zu einem solchen unfruchtbaren „Streit“
um das Kindeswohl sehen die Autoren, wenn sich die beteiligten Spezialisten
als die „besseren Eltern“ verstehen und danach handeln. Sie erachten
dies als einen schwerwiegenden professionellen Fehler, denn die
Spezialisten können weder einzeln noch alle zusammen das Versprechen
von wirklichen Eltern erfüllen, tagtäglich für das Kind da zu sein
und es als einzigartiges Individuum zu würdigen.