Da in dieser Arbeit anhand von Goldsteins u.a.
Konzept des „minimalen staatlichen Eingriffs“ das Problem aufgetaucht
ist, keine Orientierung bei weniger eindeutigen Fällen von Kindeswohlgefährdung zu bekommen, soll erstens mit der juristischen
Kanonisierung des Begriffes eine Charakterisierung unternommen werden,
was seitdem unter Gefährdung verstanden wird. Zweitens sollen zwei
weitere Möglichkeiten für den Sozialarbeiter zur Orientierung erörtert
werden: ein Grundrechtskatalog zur Vernachlässigung im Säuglingsalter
und die Orientierung am „Kindeswillen“. Schließlich sollen mit der
Darstellung der Grenzen der Diagnose von Gefährdung die Schwelle
zwischen Gefährdung und „bloß miserabler Erziehung“ erörtert werden.
Bei der Entscheidung zur Bewilligung von erzieherischen
Hilfen knüpft das KJHG im Unterschied zum JWG nicht mehr zwangsläufig
an den Tatbestand einer Gefährdung des Kindeswohls an.
Allerdings kommt das KJHG völlig ohne den Gefährdungsbegriff nicht
aus, wenn das Kind des staatlichen Schutzes vor seinen Eltern bedarf
und ein Sorgerechtsentzug erwogen wird. Der Gefährdungsbegriff taucht
im Gesetz im Abschnitt „Andere Aufgaben der Jugendhilfe“ bei der
Inobhutnahme (§42), Herausnahme (§43), Pflegeerlaubnis (§44), Betriebserlaubnis
(§45), Anrufung des Vormundschaftsgerichts als Voraussetzung zur
Entziehung des Sorgerechts (§50) und bei der Regelung zur Offenbarung
anvertrauter Daten (§65) auf.
Dieser Abschnitt des KJHG hat für das Thema Kindeswohl
besondere Brisanz, da hier Handlungsräume des Jugendamts geregelt
werden, die auch ohne Zustimmung der Eltern bestehen. Dadurch werden
die Grenzen des KJHG als reines Leistungsgesetz sichtbar. Diese
Eingriffsmöglichkeiten des Jugendamtes sind in der Praxis einerseits
gleichsam das Damoklesschwert, das über allen Bemühungen einer offenen
und fairen Zusammenarbeit mit den Eltern schwebt, und begründen
häufig deren Misstrauen. Sie können aber andererseits auch ein gewisses
Druckmittel
sein, die Eltern zu einer bestimmten Ebene der Zusammenarbeit zu
bewegen. Eindeutig jedoch ist, dass die Definitionsmacht fürs Kindeswohl
in diesem Fall nicht mehr bei den Eltern liegt, sondern an den Staat
übergeht, der den Begriff in erster Linie unter dem Aspekt der Kindeswohlgefährdung
durch seine Institution Jugendamt ausfüllt.
Inhaltlich bestimmt wurde der Begriff „Kindeswohlgefährdung“
sehr stark durch Auseinandersetzungen in der Zusammenarbeit zwischen
Jugendamt und Vormundschaftsgericht.
Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, Kindeswohlgefährdung
mit Hilfe der gerichtlichen Wertkonkretisierung inhaltlich zu füllen.
Das Jugendamt selbst hat keine Befugnis, ins
Personensorgerecht von Eltern einzugreifen; dies ist allein dem
Vormundschaftsgericht vorbehalten. Das Jugendamt bestimmt jedoch,
wann das Vormundschaftsgericht eingeschaltet werden muss. Das heißt,
es entscheidet nach §50 KJHG, ob es das Kindeswohl für gefährdet
hält
und ob zur Abwendung einer solchen Gefährdung das Tätigwerden des
Gerichts erforderlich ist. Der einzelne Sozialarbeiter ist in einem
solchen Fall verpflichtet nachzuweisen, dass die Leistungen und
Möglichkeiten der Jugendhilfe nicht mehr ausreichen, die Gefährdung
abzuwenden. Ein schwerwiegender Anlass, zu diesem Urteil zu gelangen,
ist es zum Beispiel, wenn die Personensorgeberechtigten (also die
Eltern) nicht bereit sind, die vorgeschlagenen Hilfen anzunehmen.
Das Jugendamt muss die Kindeswohlgefährdung direkt der mangelnden
Mitwirkungsbereitschaft der Eltern zuschreiben und diese damit persönlich
für das Fortbestehen der Gefährdung verantwortlich machen. Maas
bemerkt dazu, dass „auf diese Weise (...) der §1666 BGB Merkmale
einer persönlichen Schuldzuschreibung zurück(erhält,
T.L.), die durch seine Neufassung im Jahre 1980 gerade beseitigt
worden waren.“
Er sieht somit den Versuch, der durch die Neuformulierungen des
KJHG beabsichtigt war, den Gefährdungsbegriff im Bereich der erzieherischen
Hilfen zu gänzlich vermeiden,für
gescheitert an.
In diesem Zusammenhang hält Maas es für unverantwortlich, in der
persönlichen Beratung und Aufklärung der Personensorgeberechtigten
eine aus fachlicher Sicht vorliegende Gefährdung zu verschweigen.
Im Sinne der gesetzlichen Verpflichtung des Jugendamtsmitarbeiters
und aus fachlicher Sicht sieht er es für dringend geboten an, die
Familie über die diagnostische Einschätzung von einer vorliegenden
Kindeswohlgefährdung zu informieren.
Da der Gefährdungsbegriff offensichtlich nicht
aus der Jugendamtstätigkeit herauszuhalten ist und er im Sorgerechtsverfahren
eine zentrale Rolle spielt, muss an dieser Stelle auf dessen Bedingungen
und Inhalte eingegangen werden. „Der Gefährdungstatbestand stellt
kein durchnormiertes, in sich geschlossenes Wertprinzip dar, sondern
begründet ein ‚offenes‘ Recht, das der Wertausfüllung im Einzelfall
bedarf. Die Zuständigkeit zur Normvollendung liegt in der zuständigen
Entscheidungsinstanz, der sich die Aufgabe in jedem Einzelfall neu
stellt.“
Diese Aufgabe obliegt, wie schon mehrfach dargelegt,
dem Jugendamt, und es hat sich dabei eigenverantwortlich nach fachlichen
und professionellen Standards zu orientieren. Allerdings ist diese
Wertkonkretisierung nicht zuletzt von der Rechtsordnung vorgeprägt;
denn durch die bisherige Rechtsprechung ist eine Kasuistik zur Gefährdung
des „Kindeswohls“ entwickelt worden,
welche nach wie vor die entscheidungsleitenden rechtlichen Gesichtspunkte
liefert.
So fasst Maas die
rechtlichen Kriterien für Kindeswohlgefährdung in folgenden
vier Bereichen zusammen. Erstens der Sorgerechtsmissbrauch
definiert sich als das Ausnutzen der elterlichen Sorge zum Schaden
des Kindes. Dies stellt gleichzeitig einen speziellen Fall von Rechtmissbrauch
dar und führt zur Verwirkung des Sorgerechtes. Hier werden im Einzelnen
angeführt:
„-
die körperliche Misshandlung des Kindes,
- die Verweigerung notwendiger medizinischer Behandlung,
- die Ausbeutung der kindlichen Arbeitskraft,
- das Anhalten des Kindes zu strafbaren Handlungen oder zur Unzucht,
- der sexuelle Missbrauch des Kindes,
- die Verweigerung des Schulbesuchs,
- missbräuchliche Umgangsverbote zum anderen Elternteil, Großeltern,
Geschwister o.ä.,
- das erstickende Erziehungsverhalten (over-protection),
- unzulässige Wegnahme des Kindes von Pflegeeltern.“
Der zweite Bereich
betrifft die Vernachlässigung
des Kindes:
„-
mangelhafte Ernährung und Pflege, Unterlassen ärztlicher Behandlung,
- mangelhafte Beaufsichtigung des Schulbesuchs,
- Duldung des Herumtreibens,
- schleppende Unterhaltszahlungen.“
Drittens nennt Maas
das unverschuldete Versagen der Eltern:
„-
Verwendung der Einkünfte des Kindes durch die geistesgestörte und
alkoholabhängige Mutter zu anderen Zwecken als zu dessen Unterhalt,
- Verwahrlosung des Kindes infolge langjähriger Heroinsucht der
alleinerziehenden Mutter,
- Verweigerung einer lebensnotwendigen Bluttransfusion aus religiösen
Gründen.“
Der vierte Bereich betrifft die Gefährdung durch
das Verhalten Dritter und ist inhaltlich unspezifisch,
zielt aber darauf, den Einfluss dieser Dritten auf das Kind zu unterbinden.
Während der Sorgerechtsmissbrauch verallgemeinerbare
auch strafrechtlich ermittelbare Tatbestände beinhaltet, so sind
die Bereiche der Vernachlässigung und des unverschuldeten Versagens
der Eltern allein durch die Darstellung von Einzelfällen beschreibbar.
Der vierte Bereich lässt sich inhaltlich überhaupt nicht mehr verallgemeinern.
Maas betont, dass alle diese Tatbestände nicht
zu einem Sorgerechtsentzug führen müssen, wenn die Eltern (auch
mit Hilfe des Jugendamts) gewillt und in der Lage sind, die Gefährdung
vom Kind abzuwenden. Ist das nicht der Fall und muss das Vormundschaftsgericht
eingeschaltet werden, und der Sozialarbeiter hat dem Gericht den
Tatbestand mitzuteilen und zu begründen. Dabei darf er im Sinne
des Datenschutzes nur diejenigen Tatsachen offen legen, die sich
auf den Tatbestand beziehen. Informationen zum Anlass und Ursachen
sowie des sozialen Umfeldes dürfen nur eingebracht werden, wenn
sie einen Erklärungswert für den Tatbestand haben.
Der Versuch eine Konkretisierung des Gefährdungsbegriffes
mit Hilfe der kanonisierten Rechtssprechung zu entwickeln, hat dazu
geführt, dass eine klare Entscheidung nur in strafrechtlich verfolgbaren
Fällen herstellbar ist. Bei den anderen Fällen wurden die Überlegungen
auf die Notwendigkeit einer begründenden Diagnose und immer wieder
auf die Bereitschaft der Eltern an der Beseitigung der Gefährdung
verwiesen.
Darüber hinaus ist es aber fraglich, ob aus der rechtlichen Betrachtung
von Kindeswohlgefährdung ein Begriff von Kindeswohl entwickelt werden
kann. Das heißt: Handelt es sich um Kindeswohl, wenn Eltern ihre
Kinder nicht so sehr misshandeln, als dass Umfeld davon Kenntnis
erhält, oder Kinder nur soweit versorgt werden, damit sie keinen
Anstoß erregen? Mit der Gewährleistung notwendiger ärztlicher Behandlung
oder dem Verbot der Ausbeutung kindlicher Arbeitskraft sind sicher
gesellschaftliche Standards erreicht, die nicht zu allen Zeiten
selbstverständlich waren. Aber handelt es sich auch dann um eine
Erziehung zum Wohl des Kindes, wenn sie lediglich nach außen bestimmten
Normen entspricht? Eine solche Doppelbödigkeit der Erziehung wird
durch die rechtliche Orientierung des Kindeswohlgefährdungsbegriffs
herausgefordert. Diese Doppelbödigkeit kann aber auch ein Hindernis
für die Zusammenarbeit mit den Eltern darstellen.
Als mögliche Orientierungshilfe für sozialpädagogische
Entscheidungen hinsichtlich des „Kindeswohls“ könnte man sich zum
Beispiel eine gründlich durchdachte Auflistung von objektiven Tatbeständen
von Kindeswohlgefährdung vorstellen, die Rechtssicherheit für den
Sozialarbeiter darstellt und den Eltern Gerechtigkeit verspricht.
Einen Versuch, objektive Tatbestände von Kindeswohlgefährdung
zusammenzutragen, wurde von der „interdisziplinären Arbeitsgemeinschaft
Hannover“ mit
der Definition der Grundrechte von Kindern gestartet. Die „Arbeitsgemeinschaft
will dazu beitragen, dass Grundrechtsverletzungen an Kindern zuverlässiger
erkannt, eingeschätzt und beurteilt werden können. Sie will damit
erreichen, dass sowohl die am Hilfeprozess beteiligten Berufsgruppen,
als auch die im Einzelfall mitwirkenden Helfer-Personen, die körperliche,
seelische und geistige Kindeswohlgefährdung nicht mehr unterschiedlich
definieren, wodurch Grundrechtsverletzungen an Kindern unter Umständen
unerkannt bleiben.
Die „Arbeitsgemeinschaft“ hat für die Wahrung
des Kindeswohls im Säuglingsalter einen
Katalog von elf verschiedenen Grundrechten aufgestellt. Die Rechte werden differenziert in:
„Recht
auf ausreichende Körperpflege,
- auf geeigneten Wach- und Schlafplatz,
- auf schützende Kleidung,
- auf altersgemäße Ernährung,
- auf sachgemäße Behandlung von Krankheiten und Entwicklungsstörungen,
- auf Schutz vor Gefahren,
- auf Zärtlichkeit, Anerkennung und Bestätigung,
- auf Sicherheit und Geborgenheit,
- auf Individualität und Selbstbestimmung,
- auf Ansprache und
- auf langandauernde Bindung.“
Diese Grundrechte sind jeweils noch durch mehrere
Unterpunkte konkretisiert. Um eines der Rechte herauszugreifen,
sei hier als Beispiel das „Recht auf Ansprache“ genannt, das mit
den Fragen: „Wird nicht oder kaum mit dem Kind gesprochen? Wird
nicht oder kaum mit dem Kind gespielt? Steht kein altersentsprechendes
Beschäftigungsmaterial für das Kind zur Verfügung? Wird dem Kind
kein ausreichender Körperkontakt geboten? u.a.“ näher
definiert wird. Das „u.a.“ weist daraufhin, dass der Grundrechtskatalog
jederzeit durch weitere Punkte ergänzt werden kann, wie es die Problematik
von Einzelfällen verlangt. Es können also nicht alle möglichen Gefährdungsquellen
vorausgesehen und in den Katalog aufgenommen werden. Er muss stets
unvollständig bleiben und verletzt daher den versprochenen Charakter
der Gerechtigkeit. Man könnte sich zum Beispiel vorstellen, dass
ein besonders schwerer Fall von Missbrauch eines Kindes als „Partnerersatz“
nicht geahndet wird, weil dieser Sachverhalt nicht im Katalog aufgenommen
wurde, während ein verhältnismäßig leichter Fall von Vernachlässigung
aufgrund der Grundrechtsverletzung geahndet werden muss.
Ein weiteres Problem taucht auf, wenn ein Sozialarbeiter,
zum Beispiel bei Hausbesuchen, eine Familie anhand des Grundrechtskatalogs
beurteilen will. Träfen ein oder zwei der Kriterien auf seine Klienten
zu, wären sicher auch die Autoren der Arbeitsgemeinschaft nicht
dafür, das Kind jetzt aus der Familie zu nehmen. Aber ab wann ist
die Grenze erreicht? Überspitzt ausgedrückt: Ist es gerechtfertigt
einem Kind die Eltern zu nehmen, wenn mit ihm kaum gespielt wird,
ihm kein altersentsprechendes Beschäftigungsmaterial zur Verfügung
steht und es zu enge Kleidung tragen muss? Folgt man den Autoren,
wären dies allemal Gründe, die Kinder vor diesen schädlichen Lebensbedingungen
zu schützen, da es sich um Grundrechtsverletzungen handelt, die
geahndet werden müssen.
Außerdem enthebt der Katalog den Sozialarbeiter
nicht von seiner schwierigsten Aufgabe, nämlich auch die Schwere
der Gefährdung zu beurteilen: Gibt es kompensierende Faktoren in
der Familie und wie sieht die Prognose für die Familie aus, handelt
es sich zum Beispiel um eine vorübergehende Beeinträchtigung der
Lebensbedingungen? Das Problem, das die Autoren lösen wollen, nämlich
die Unterschiede in der Beurteilung von Vernachlässigungstatbeständen
zu beseitigen, liegt wahrscheinlich weniger in der Feststellung
von Tatbeständen, sondern eher in der Interpretation der Familienstruktur
und der Prognose für die Familie.
Ein solcher Grundrechtskatalog hat in der praktischen
Sozialarbeit wahrscheinlich den Effekt, dass er vor allem auf jene
Eltern wirkt, die bereits ein gewisses Unrechtsbewusstsein hinsichtlich
ihrer Erziehungsmethoden haben. Eltern, die beispielsweise die Verwahrlosung
ihrer Kinder nicht wahrnehmen (weil sie beispielsweise selbst nicht
wenig verwahrlost sind), sind
die Maßstäbe, die im Grundrechtskatalog aufgestellt wurden, nur
schwer zu vermitteln; und hier beginnt erst die Arbeit des Sozialarbeiters.
Obwohl im Grundrechtskatalog neben strafrechtlich
relevanten Vernachlässigungstatbeständen, wie einer unzureichenden
Ernährung, auch Kriterien zum Umgang mit dem Kind aufgenommen sind,
kann er nicht den alltäglichen und vielfältigen Ambivalenzen, Kompromissen
und Lebensbedingungen, unter denen Erziehung stattfindet (was der
Sozialarbeiter bei seinen Entscheidungen zu berücksichtigen hat),
Rechnung tragen. Der Katalog bietet nur eine scheinbare Sicherheit;
die eigentliche Arbeit, die Familien in ihren Grenzen und Möglichkeiten
zu erkennen, kann er dem Sozialarbeiter nicht erleichtern oder abnehmen.
Darüber hinaus besteht bei jedem Versuch aus
einer solchen „Checkliste“ konkrete Entscheidungskriterien abzuleiten
die Gefahr, dass diese dann isoliert betrachtet und für persönliche
oder politische Zwecke missbraucht werden können, was sich nachträglich
als Fehlentscheidung für das Kind herausstellen kann. So sehr der
Ruf nach einer „Checkliste“ für die Vernachlässigung von Kindern
dem Sozialarbeiter Sicherheit und Orientierung und der Familie Gerechtigkeit
und Gleichbehandlung zu versprechen scheint, so sehr kann gerade
dieser Versuch der Verobjektivierung des Einzelfalles unter Umständen
den Eltern unrecht tun und vor allem die Kinder unverschuldet in
großes Unglück stürzen.
Dieser Grundrechtskatalog könnte allenfalls
als erste Orientierung für den Eingriff in die elterliche Sorge
dienen, um dem Sozialarbeiter die Sicherheit zu geben, Straftatbestände
in der Erziehung der Eltern festzustellen. Dies wäre mit dem Versuch
Goldsteins u.a. zu vergleichen, minimale Kriterien für staatliche
Eingriffe zu formulieren (siehe oben Seite 34) oder dem
Versuch von Maas, Kindeswohlgefährdung anhand der richterlichen
Rechtsprechung zu konkretisieren (siehe oben Seite 41).
Aber alle drei Versuche der Konkretisierung bewirken, dass das Augenmerk
des Sozialarbeiters weniger auf das Kindeswohl, als auf die Gefährdungen
des Kindes gelenkt wird und, dies verstellt den Blick auf die in
den meisten Fällen durchaus vorhandenen Ressourcen der Familie.
Im Entscheidungs- beziehungsweise Hilfeprozess
ist die Versuchung für den Sozialarbeiter groß zu glauben, dem Kindeswohl
am ehesten entsprechen zu können, wenn er nur den wahren oder wirklichen
„Willen“ des Kindes in Erfahrung bringt, um dann die entsprechenden
„richtigen“ Entscheidungen zu treffen.
Zunächst einmal steht der Sozialarbeiter aber
vor dem Problem: Wie kann er den „eigentlichen“ Willen des Kindes
ermitteln, zumal wenn es zum Beispiel noch klein ist und in allen
Lebensbereichen von seinen Eltern noch sehr abhängig. Er
bemüht psychologische Instrumente, um durch die Loyalitätskonflikte
des Kindes hindurch dessen „wahren Willen“ „herauszudestillieren“. Es
bleibt aber fraglich, ob am Ende immer ein individueller „Kindeswille“
feststellbar ist. Es ist sogar zu bezweifeln, ob es in jedem Fall
einen objektiven, individuellen, isolierbaren und auch noch bewussten
Willen des Kindes gibt. Der „Kindeswille“ ist in uneindeutigen Fällen
nur durch psychologische Theorien von Kindheitsentwicklung vermittelt
feststellbar und von der Vorstellung abhängig, das Kind hätte bereits
eine bewusste Individualität erreicht und sei mündig. Überlegungen
wie die der Entwicklungspsychologie, bei denen das Kind ursprünglich
in einer Symbiose mit der Mutter lebt und sich erst allmählich von
ihr differenziert und dann noch lange auch in existenzieller Weise
von ihr abhängig bleibt, erlauben nicht, so etwas wie einen individuellen
Willen des kleinen Kindes anzunehmen.
Sicherlich sind Jugendliche im Entscheidungsprozess
zu befragen und deren Willen ist zu berücksichtigen. Aber es ergibt
sich daraus die Schwierigkeit, ab welchem Alter der „Kindeswille“
als direkt verbindliches Kriterium für den Entscheidungsprozeß angesehen
werden muss. Coester und
andere vermuten,
dass einerseits feste Altersgrenzen stets willkürlich gesetzte sind,
wenn man außerdem bedenkt, wie unterschiedlich die Kinder in ihrer
persönlichen Entwicklung sind. Will man andererseits den Entwicklungstand
des Kindes bei der direkten Beteiligung am Entscheidungsprozeß mehr
berücksichtigen, um der Einzelfallgerechtigkeit näher zu kommen,
wird die Grenze, wann das Kind direkt beteiligt werden kann, unscharf
und kann sogar zum Gegenstand der Gerichtsverhandlung werden. In
dem Fall ist der Kindeswille zum Teil dem Geschick der Anwälte und
auch richterlicher Willkür aussetzt.
Außerdem schließt sich die Frage an, ob man
es Kindern überhaupt zumuten kann, sich zu entscheiden, wenn sie
von ihrer Entwicklung her noch nicht dazu bereit und in der Lage
sind? Abgesehen davon, dass Kinder die Tragweite solcher Entscheidungen
vielfach nicht absehen können, wollen
sie sich vielleicht oftmals nicht entscheiden, sondern sie könnten
sich zum Beispiel, und das liegt aus der kindlichen Perspektive
nahe, auch ein „Sowohl-als-auch“ wünschen.
Darüber hinaus ist zu überlegen, ob der „Kindeswille“
in jedem Fall durchgesetzt werden sollte? Was ist, wenn sich das
Kind dafür entscheidet, in der gefährdenden Umgebung bleiben zu
wollen? Solche oder ähnliche Entscheidungen werden sicher öfter
getroffen, denn das Kind orientiert sich in der Regel nicht an seiner
guten Zukunftsperspektive, vielmehr an unmittelbaren Bindungen und
Vorteilen. Der
Sozialarbeiter muss sich aufgrund seines Wächteramtes an dieser
Stelle über den „Kindeswillen“ hinwegsetzen. Aber darf er sich am
„Kindeswillen“ in seiner Entscheidung nur dann orientieren, wenn
dieser mit seinen Vorstellungen übereinstimmt, oder missbraucht
er in diesem Fall diesen Willen zur Durchsetzung seiner Ziele gegen
die Eltern, wobei der „Kindeswille“ zum Spielball in der Auseinandersetzung
zwischen den Erwachsenen wird? Die Ermittlung des Kindeswillen ermöglicht
nur scheinbar eine verlässliche Richtlinie für den Sozialarbeiter,
vielmehr ergeben sich daraus eine Reihe von Problemen und Unwägbarkeiten.
Nun ist allerdings zu beachten, dass der Sozialarbeiter
sich in oben dargestellten Entscheidungsprozessen nur dann befindet,
wenn er an juristischen Fragen, wie sie ausschließlich in Scheidungsverfahren
und Sorgerechtsverfahren auftreten, beteiligt ist. Diese Ebene nimmt
nur einen begrenzten Teil der Arbeit mit den Familien ein. Sie ist
aber im Hintergrund immer präsent, da jeder einzelne Fall im Konflikt
auf die juristische Ebene wechseln (ich will nicht sagen enden)
kann, was gewissermaßen die Grenze sozialpädagogischer Arbeit bildet.
Die Regeln juristischer Entscheidungsfindung liegen einerseits jenseits
der Sozialpädagogik, andererseits müssen sie immer schon während
der sozialpädagogischen Arbeit berücksichtigt werden, ohne sich
von ihnen vereinnahmen zu lassen oder überhaupt die Arbeit zu bestimmen.
Schließlich aber ist der Sozialarbeiter von
juristischer Seite immer wieder aufgerufen, seine sozialpädagogischen
Mittel per Gutachten für den juristischen Entscheidungsprozess zum
Kindeswohl fruchtbar und im Sinne der Überwindung von Entscheidungsstereotypen
einzubringen, indem er den Entscheidungsprozess des Gerichtes kompetent
vorstrukturiert. So
bleibt dem Sozialarbeiter die Aufgabe, dem Gericht die kindliche
Entscheidungslogik für den Einzelfall näher zu bringen.
Weder Eingriffskriterien noch Kindeswohldefinitionen
entheben der Aufgabe der eingehenden Diagnose der Familie in ihrer
Problematik und ihren Ressourcen. So bedeutet die Diagnose zunächst
im Allgemeinen „(...) die Suche und das Erkennen, das Beschreiben
und Interpretieren, die Beurteilung und Vorhersage von persönlichen
Merkmalen und Handlungen, psychischen Sachverhalten, Zuständen und
Vorgängen (...). Ziel diagnostischer Praxis ist die Erleichterung,
Absicherung, Kontrolle oder auch lediglich die Legitimation folgender
Entscheidungen oder beraterischer und therapeutischer Intervention.“Im Rahmen der Jugendamtsarbeit hat die Diagnose
von Kindeswohlgefährdung die Funktion der Legitimation der Entscheidung
zum Beispiel auf Trennung des Kindes von seinen Eltern; für den
Sozialarbeiter bedeutet die gefällte Diagnose die rechtliche Absicherung
seiner Entscheidung und auch eine psychische Entlastung. Eine solche
Diagnose ist des weiteren eine der Grundlagen, auf der die Fälle
evaluiert werden. Kindeswohl ist also in höchstem Maße von der richtigen
Diagnose abhängig, in der die Problematik der Familie erkannt und
beschrieben werden muss (was die Probleme der Wahrnehmung des Falles
und der Datengewinnung in sich birgt) und zu interpretieren und
zu beurteilen ist, aber in der auch Vorhersagen über die weitere
Entwicklung der Familie zu treffen sind.
Viola Harnach-Beck bezieht den Diagnosebegriff
speziell auf die Problematik im Jugendamt, die sich von einer ärztlichen
oder psychologischen vor allem im Punkt der Freiwilligkeit der Klienten
unterscheidet. Im Folgenden soll mit Harnach-Beck erläutert werden,
wie eine gründliche Diagnose von „Kindeswohlgefährdung“ gestellt
werden sollte und an welche Grenzen sie stößt.
Der Diagnosebegriff setzt dort an, wo dem Jugendamt
als Fachbehörde die Kompetenz zuerkannt wird, Gefährdungstatbestände
richtig zu beurteilen. „Die soziale Fachkraft rechtfertigt das vom
Gesetzgeber in ihre Kompetenz gesetzte Vertrauen, wenn sie sich
auf solide Fachkenntnisse über die vielfältigen Erscheinungsformen
fehllaufender Entwicklungsprozesse und deren Ursachen, Verlaufsformen
und Beeinflussungsmöglichkeiten stützen kann. Sie muß in der Lage
sein, eine entwicklungsbeeinträchtigende Sozialisationssituation
als solche zu erkennen, herausfinden, welche Faktoren an der Entstehung
und Aufrechterhaltung beteiligt sind, und Möglichkeiten der Veränderung
zu eruieren.“
Harnach-Beck führt Faktoren auf, die die Entwicklung
von Kindern in gefährdendem Grade beeinträchtigen können. Das sind
„körperliche und seelische Mißhandlung, gravierende psychische und
physische Vernachlässigung des Kindes, extreme Ablehnung, Ausbeutung
seiner Arbeitsfähigkeit oder seiner seelischen Kräfte, sexueller
Mißbrauch, extrem inkonsistentes Erziehungsverhalten, ständige heftige
verbale und/oder körperliche Auseinandersetzungen zwischen den Eltern,
Alkoholabhängigkeit eines Elternteils, wenn der Einfluß durch den
anderen Elternteil nicht ausgeglichen werden kann, ernsthafte psychische
Krankheit (z.B. eine akute psychotische Episode) bzw. schwere Persönlichkeitsstörung
der Mutter oder des Vaters sowie häufiges Verlassen des Kindes.“
Diese Faktoren sind je einzeln so beeinträchtigend für die Kindesentwicklung,
dass sie als Gefährdung gelten, sofern sie deutlich ausgeprägt,
über längere Zeit wirksam sind und nicht durch sogenannte „projektive“
Faktoren gemildert werden.
Diese Aufzählung ergänzt die des juristischen Kanons (siehe oben
Seite 41) um Bereiche
des Erziehungsstils und der Auseinandersetzungsformen, die in den
Familien herrschen. Der Grundrechtskatalog der „Interdisziplinären
Arbeitsgemeinschaft“ (siehe oben Seite 43)
wird hiermit ergänzt durch psychische Faktoren.
Lebt ein Kind unter solchen Bedingungen, so muss
man nach Harnach-Beck bei ihm mit Verhaltensauffälligkeiten, Entwicklungsrückständen,
emotionalen Störungen und später auch mit psychischen Erkrankungen,
psychosomatischen Symptomen, Persönlichkeitsstörungen und Alkohol-
oder Drogenabhängigkeit rechnen.
Wird ein Kind hingegen gedemütigt, verachtet oder lächerlich gemacht,
so wird es in seinen Grundrechten der Menschenwürde (Art.1 Abs.1
GG) verletzt.
Dass der Sozialarbeiter nicht nur die Tatbestände
an sich in Erfahrung bringen, sondern auch die Schwere, Dauer, Verfestigung
sowie die Kompensations- und Veränderungsfähigkeiten des Kindes
und seiner Familie berücksichtigen muss, stellt erhebliche Anforderungen
an ihn. Nach Harnach-Beck, hat der Sozialarbeiter einen Grenzpunkt
in einem Kontinuum festzustellen, zwischen einer „bloß miserablen Erziehung“
und einer manifesten Gefährdung des Kindes. Der Sozialarbeiter muss
in der Interpretation und Beurteilung der erhobenen Daten den Schweregrad
der Gefährdungsbedingungen eruieren, „sowie Art und Ausmaß der Folgen
beim Kind müssen als ‚erheblich‘, ‚überdurchschnittlich‘ u. dergl.
eingestuft, d.h. in Beziehung zu einer Norm gesetzt werden. Es muß
herausgearbeitet werden, welcher Zusammenhang zwischen den Störungen
des Kindes und den ungünstigen Lebensbedingungen gesehen wird, d.h.
wie die Entstehung der Störungen zu erklären ist.“
Eine Diskussion, auf welche Normen sich der Sozialarbeiter zu beziehen
hat, wird aber auch bei Harnach-Beck nicht entwickelt. Ihr ist lediglich
wichtig, dass eine fachliche Diagnose zu bewerten in der Lage ist,
ob die Störungen des Kindes mit dessen ungünstigen Lebensbedingungen
in Zusammenhang gebracht werden können.
Auch als Diagnostikerin weist Harnach-Beck darauf
hin, dass überstürztes Eingreifen selbst
in scheinbar unaufschiebbaren Fällen wie Misshandlung oder Missbrauch
die Hilfe für das Kind gefährden kann, und fordert
den Sozialarbeiter auf, mit „Sachkenntnis, Achtsamkeit, innerer
Ruhe, Sicherheit und Geduld“
die Familien zu begleiten. Er muss als Fachkraft auch und gerade
in Fällen, in denen die Familien die Tätigkeit des Jugendamtes als
Eindringen empfinden und diese abwehren müssen, die Situation des
Kindes und der Familie möglichst genau klären. Bei seiner Datengewinnung
muss der Sozialarbeiter es vor allem bei den Kindern respektieren,
wenn diese aus Loyalitätsgründen oder aus Ängsten, die Eltern zu
verlieren, nicht über die Familie oder die zum Eingriff führenden
Ereignisse sprechen wollen. Gegen den Willen des Kindes, seine Intimsphäre
unter Ausnutzung intellektueller Überlegenheit auszuforschen, bedeutet
einen gewaltsamen Umgang mit ihm, was seine Persönlichkeitsrechte
verletzt.
Sind die erforderlichen Angaben nicht von der
Familie zu erhalten, so zieht Harnach-Beck auch eine Befragung von
Personen aus dem Umfeld und von Ärzten beziehungsweise Psychologen
in Betracht. Diese Form von Informationsgewinnung kann sowohl eine
Folge aber auch als eine Voraussetzung für einen gestörten und von
Misstrauen geprägten Kontakt zu den Eltern sein. Sie sollte im Sinne
einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit den Eltern als ergiebigste
Informationsquelle vermieden werden. Dieser Weg sollte erst dann
beschritten werden, wenn alle anderen Möglichkeiten nichts fruchten.
Im Sinne des „Kindeswohls“ sollten nach Harnach-Beck
zweierlei Fehler in der Entscheidungslogik bei der Diagnosenstellung
vermieden werden: A. das Kind ist gefährdet und es erfolgt kein
Eingriff. B. das Kind ist nicht gefährdet und es erfolgt ein Eingriff.
Da der erstere Fehler, das Kind im Gefährdungsmilieu zu belassen,
ihrer Meinung nach der bedenklichere ist, plädiert sie dafür eher
den zweiten Fehler zu riskieren und die Elternrechte zu verletzen
sowie das Kind von seiner Familie zu trennen, welche seine Persönlichkeitsentwicklung
vielleicht hinreichend gefördert hätte.
Anders als zum Beispiel Goldstein u.a. setzt Harnach-Beck die Priorität
auf die rechtlich sichere Seite im Sinne der Wahrnehmung des Wächteramtes.
Harnach-Beck betont „erst wenn alle Bemühungen
nichts fruchten, weil die Eltern nicht bereit oder in der Lage sind,
allein oder mit Hilfestellung die Gefahr für das Wohl des Kindes
abzuwenden, oder wenn die Möglichkeiten des Jugendamtes nicht mehr
ausreichen, den Mißstand abzustellen, darf der staatliche Eingriff
in das Personensorgerecht erfolgen.“
Aber sie bemerkt auch: „Obwohl das Jugendamt im Interesse des Kindes
handelt, wenn es (berechtigterweise) das Vormundschaftsgericht anruft,
wird die soziale Fachkraft in der Regel dieser Aufgabe mit ambivalenten
Gefühlen nachkommen. Ihr Bestreben ist es ja vor allem, der Familie
zu helfen. Wenn dies nicht mehr gelingt, so wird sie sich die Frage
vorlegen, ob sie wirklich alles in ihren Kräften stehende getan
hat, ob sie ‚gut genug‘ war. Eine gewalttätige/ausbeuterische/alkoholkranke
Familie ‚demonstriert‘ ihr oftmals die Grenzen ihres Leistungspotentials
und zeigt ihr, wie unzureichend ihre Einwirkungsmöglichkeiten manchmal
sind, gerade auch dann, wenn sie sich besonders engagiert eingesetzt
hat. Nicht nur die Familie fühlt sich gekränkt, sondern auch die
Helferin/der Helfer. Zur Professionalität des/der letzteren gehört
es daher, mit dem Typus von Enttäuschungen ‚umgehen‘ zu können.“ Diese
Verarbeitung von Enttäuschungen auf Seiten der Sozialarbeiter ist
an diesem belastendsten Punkt der Sozialarbeit besonders wichtig,
da gerade hier für das Kind die einschneidendsten Entscheidungen
getroffen werden, die besonders umfassende Informationen erfordern
und eine sorgfältige Beurteilung derselben benötigen, um überhaupt
eine am Wohl des Kindes orientierte Entscheidung treffen zu können.
Harnach-Beck stellt fest, dass es gerade in solchen
hochstrittigen Fällen von Kindeswohlgefährdungen, bei denen die
Eltern nicht mitwirken wollen und die für die Sozialarbeiter eine
bis an seine Grenzen gehende Belastung darstellen, besonders wichtig
ist, zur Diagnosestellung umfassende Informationen zu erhalten.
Wie oben mit Ortmann (Seite 23) bereits angesprochen, führen
unterschiedliche Theorieansätze in der Sozialarbeit auch zu unterschiedlichen
Ergebnissen. Solche unterschiedlichen Ansätze kristallisieren sich
in der Auseinandersetzung um die Prioritäten in der Wahrnehmung
der gesetzlichen Aufgaben und dem Umgang mit den Beteiligten heraus.
So ist 1997 eine fachliche Debatte entbrannt, bei der auf der einen
Seite zum Beispiel Maas und Harnach-Beck stehen, die als Diagnostiker
auf eine unabhängige Diagnose als Entscheidungskriterium bestehen
und damit das Augenmerk auf die Gefährdungen legen, um auf diese
Weise dem staatlichen Wächteramt nachzukommen. Auf der anderen Seite
stehen Merchel, Mörsberger und Schrapper, die die Wahrnehmung des
Wächteramtes besser mit Hilfe eines konsequenten „Aushandlungsprozesses“
zwischen Sozialarbeiter und Familie bewerkstelligt sehen wollen.
Was Merchel mit „Kundenorientierung“ (siehe oben
Seite 28) bisher angedeutet
hat, wird deutlicher durch das Schlagwort „Aushandlung statt Diagnose“. Er behauptet,
wenn der Entscheidungsprozess für Maßnahmen der Jugendhilfe konsequent
mit Hilfe von „Aushandlung“ zwischen Sozialarbeiter und Leistungsberechtigten
erreicht werden könnte, wäre dieses Verfahren in der Lage, den ursprünglichen
sozialpädagogischen Diagnosebegriff abzulösen.
Das Verhältnis Sozialarbeiter und Klient würde sich mit einer solchen
Arbeitseinstellung zugunsten einer gleichberechtigten Auseinandersetzung
mit den Problemen der Familie verändern, und die Familien könnten
bereiter sein, zu kooperieren. Der Nachteil ist, dass bereits ein
gewisses Maß an Freiwilligkeit und Einsichtsfähigkeit (oder aber
Leidensdruck) bei den Familien bestehen muss. Und hier setzt die
Kritik von Maas an, der die Ablösung der fachlichen Diagnose durch
einen sozialpädagogisch geleiteten Aushandlungsprozess, neben der
Tendenz die Jugendhilfe zu privatisieren,
als eine Missachtung der gesellschaftlichen Aufgabe des Kinderschutzes
und eine Verleugnung der Verantwortung für die Kinder betrachtet.
Auch Harnach-Beck bemerkt, dass „der Slogan vom ‚ganz anderen Jugendamt‘,
das keine Eingriffsbehörde mehr ist, sondern mit den Eltern Problemdefinitionen
und Änderungsstrategien in jedem Fall ‚aushandelt‘,(...) die Situation
des dort tätigen Sozialarbeiters nicht einfacher (macht, T.L.).
Er spricht ihm, wenn auch nicht direkt, so doch zwischen den Zeilen,
die Legitimation zur Initiierung eines Eingriffes ab.“
Bei den „Diagnostikern“ hat sich das Problem
der Informationsbeschaffung aufgrund der Gesprächsverweigerungen
von Eltern, die auch auf das Machtgefälle zurückzuführen sind, als
Hindernis für die Realisierung des Kindeswohls
herausgestellt (siehe Seite 39).
Hinsichtlich der tendenziell entmündigenden Behandlung der Klienten
ist die oben ausgeführte Betrachtung der Diagnose aus sozialpädagogischer
Sicht kritisch zu bewerten.
Die Aushandlungsbefürworter stehen weniger vor
diesem Problem, da sie das Hindernis des Informationsmangels über
die Familiensituationen aus dem Weg räumen. Indem sie die Klienten
als mündige Bürger behandeln, erzeugen sie damit eine größere Bereitschaft
bei den Eltern, arbeiten so näher am Kindeswohl. Aber die von Maas
kritisch angesprochene Tendenz der Jugendhilfe, blind auf die Freiwilligkeit
der Adressaten zu bauen, muss ernst genommen und die Neue Fachlichkeit
auf ihre Tauglichkeit, auch den Kinderschutz sicherstellen zu können,
überprüft werden.
Gleichsam im Vorübergehen entwirft Heinz Hermann
Werner (Leiter des Jugendamtes der Stadt Mannheim) als einer der
„Aushandlungsbefürworter“ ein Kriterium für die Herstellung von
Kindeswohl, dass „eine am Wohl des Kindes orientierte Entscheidung
eigentlich nur getroffen werden kann, wenn beide Elternteile nicht
streitig die Angelegenheit zu bewältigen suchen.“
Gleichzeitig
betont er, dass „jede auf Veränderung abgezielte Maßnahme in der
Erziehungshilfe (...) nur mit aktiver Beteiligung der Betroffenen
erreicht werden (kann, T.L.). Ansonsten verkümmern sie zu fachlich
frommen Wünschen oder führen zu unverhältnismäßigen Eingriffsmaßnahmen,
die von vornherein nur verengte Entwicklungsperspektiven zulassen.“
Diese beiden Perspektiven können nur hervorgehoben werden, da sie
einen Begriff von Kindeswohl voraussetzen, der es unmöglich macht,
eine noch so gut gemeinte Entscheidung zum Wohl des Kindes, unabhängig
von den anderen Beteiligten durchsetzen zu wollen oder gar zu können.
Werner weist damit darauf hin, dass nur mit der Familie Gestaltungsmöglichkeiten
der sozialpädagogischen Arbeit möglich sind, andernfalls bleibt
nur eine Trennung der Kinder von ihren Eltern als Option übrig.
Der Versuch, eine zufriedenstellende Definition
von Kindeswohlgefährdung zu gewinnen, ist daran gescheitert, dass
die Rechtssprechung lediglich auf dem Gebiet der strafrechtlich
relevanten Tatbestände eine Definition erlaubt.
Im Bereich der „Vernachlässigung“ oder des „unverschuldeten Versagens
der Eltern“, kann eine Definition nur noch mit Hilfe von Einzelfallbeschreibungen
vorgenommen werden. Die „Gefährdung durch Dritte“ schließlich bleibt
völlig unspezifisch.
Der Grundrechtskatalog, wie ihn die „Interdisziplinäre
Arbeitsgemeinschaft“ vorschlägt, ist deshalb nicht als Orientierungshilfe
für Kindeswohl geeignet, weil er für die Lösung der eigentlichen
diagnostischen Probleme der Sozialarbeit nichts beitragen kann.
Außerdem lenkt der Katalog das Augenmerk allein auf Gefährdungstatbestände
und nicht auf Ressourcen der Familien.
Entscheidungen entlang des Kindeswillens sind
ebenfalls fraglich. Zunächst weil er zum beliebigen Spielball in
der Auseinandersetzung werden kann, denn zu selten ist er genau
und unverrückbar und ohnehin nicht unabhängig vom Elternwillen feststellbar.
Außerdem können keine allgemeinen Richtlinien festgelegt werden,
wann mit dem Kindeswillen Entscheidungen legitimierbar sind, und
wann er aus pädagogischer Sicht ignoriert werden sollte. Schließlich
kann es sein, dass der Kindeswille mit keiner der den Erwachsenen
möglichen Alternativen in Übereinstimmung gebracht werden kann.
Die Wirksamkeit der Begründung der Kindeswohlgefährdung
wurde zudem noch konterkariert durch die notwendige Berücksichtigung
des Maßes an Bereitschaft der Eltern, die Gefährdungen des Kindes
abzuwenden. Auf diese Weise muss hier eine Entscheidung nicht nur
aufgrund von Verhalten der Beteiligten in der Vergangenheit gefällt
werden, sondern (und das ist für die Perspektive des Kindes wichtig)
es muss auch die Veränderungswilligkeit der Eltern berücksichtigt
und beurteilt werden.
Die Begründung für die Entscheidung zum Kindeswohl
sollte die Diagnose sein. Bei Harnach-Beck stellte sich das Problem
der Diagnose in der Feststellung des Punktes an dem eine „bloß miserable
Erziehung“ in Kindeswohlgefährdung umschlägt. Dabei ist es besonders
wichtig, umfassende Informationen für die Diagnosestellung zu erhalten,
je mehr das Kind gefährdet ist und die Eltern nicht an einer Zusammenarbeit
interessiert sind. Die Informationsgewinnung stellte sich dabei
als das dringlichste Problem der Diagnosestellung dar. Andere Informationsquellen,
wenn die Eltern ausfallen, können die Kinder selbst sein oder Personen
aus dem Umfeld. Die Nutzung beider Quellen stellte ein Problem dar:
Bei der ersteren werden die Kinder zusätzlich seelisch belastet;
zweitens bedeutet die Befragung anderer Quellen im Umfeld eine zusätzliche
Belastung für die Zusammenarbeit mit den Eltern.
Werner gibt einen wichtigen Hinweis, woran sich
die Abwehr von Kindeswohlgefährdung vom Kindeswohl unterscheidet.
Nach seinen Vorstellungen sollten sich Entscheidungen zum Kindeswohl
am Modell einer intakten Familie orientieren, bei der die Entscheidungen
zum Wohl des Kindes nur „nicht streitig“ gefällt werden und die
Probleme gemeinsam zu bewältigen versucht werden.
Betrachtet man sich die Auseinandersetzung zwischen
den Befürwortern der unabhängigen Diagnose und denen der konsequenten
Aushandlung, so scheinen Kindesschutz
und Kindeswohl sich beinahe auszuschließen.
Einerseits, da Kindesschutz sich offensichtlich nur durch eine unabhängige
Diagnose gewährleisten lässt (Maas), aber Bemühungen um das Kindeswohl
durch die tendenziell entmündigende
Behandlung der Klienten vereitelt werden. Wohingegen andererseits
eine konsequente Aushandlung die Zusammenarbeit zum Kindeswohl fördert,
aber gehemmt ist, weil sie das vorhandene Maß an Freiwilligkeit
und Veränderungswillen bei den Eltern nicht durch Eingriffe zerstören
will. Ein Vermittlungsversuch stellt die Erörterung des sozialpädagogischen
„Könnens“ von Burkhard Müller dar, der einerseits die konsequente
Aushandlung befürwortet aber andererseits die mit der Wahrnehmung
des Wächteramtes verbundenen Vorschriften als Grundlage für die
konsequente Durchführung des Aushandlungsprozesses für notwendig
erachtet.
Zunächst müssen aber einige Grundlagen der sozialpädagogischen
Perspektiven für die Arbeit mit den Klienten erarbeitet werden,
denn sie versprechen, dass die Arbeit im Jugendamt nicht nur ein
Kämpfen gegen Missstände in den Familien und die Verteidigung von
Rechten der Kinder sein muss. Vielmehr sind hier auch Emanzipations-
und Entwicklungspotenziale für die Familien zu entdecken.