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Schluss

1)   Ergebnis

Das Ergebnis der Arbeit ist überraschend: Das Kindeswohl als Entscheidungskriterium in der Sozialarbeit im Jugendamt gibt es genau genommen weder bei der Ausübung des staatlichen Wächteramtes noch bei der Bewilligung von Hilfen zur Erziehung: Dort, wo Entscheidungskriterien für die Ausübung des Wächteramtes entwickelt werden, geht es nicht um Kindeswohl, sondern bestenfalls um die Abwehr von Kindeswohlgefährdungen. Dort, wo sich in der Zusammenarbeit mit den Eltern um Kindeswohl bemüht wird, werden weder für noch von der Sozialarbeit zuverlässige Kriterien entwickelt und Kindeswohl verliert sich in Einzelfallbedingungen und individuellen Vorstellungen.

Historisch ist das Problem in der Auseinandersetzung um die Definitionsmacht über das Kindeswohl zwischen Staat und Bürger entstanden. Im Nationalsozialismus hat ein totalitärer Staat diese Definitionsmacht tendenziell vollständig an sich gerissen und die Eltern als Erziehungsinstanz entmündigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde zwar das Kräftegleichgewicht zwischen Staat und Bürger durch rechtsstaatliche Verhältnisse prinzipiell wieder hergestellt. Die Reibungen um die Definitionsmacht blieben aber bestehen, da das Kindeswohl weiter im Spannungsfeld zwischen Elternrechten und staatlichem Wächteramt angesiedelt blieb. Veränderungen gab es mit dem KJHG dahingehend, dass die Jugendhilfe nicht erst dann eingreifen sollte, wenn Gefährdungen vorliegen oder unmittelbar bevorstehen, sondern auch präventiv Hilfestellung geben kann. Allerdings setzt das voraus, dass Kriterien für die Bewilligung von Hilfeleistungen, also Kriterien für Kindeswohl jenseits der Gefährdung, formuliert werden.

Der Staat kann seine Aufgabe als Wächter des Kindeswohls nur mittels einer Behörde wahrnehmen: dem Jugendamt. Dadurch wird in die Auseinandersetzung um das Kindeswohl ein schwerfälliger bürokratischer Apparat hineingetragen. Dessen Zuständigkeiten sind begrenzt, und die Kommunikationsformen in der Verwaltung genügen den Ansprüchen von Vermittlung der Lebensverhältnisse häufig nicht. Aus der Doppelstruktur des Jugendamtes als Eingriffs- und Leistungsbehörde ergeben sich notwendigerweise Spannungen in der Sozialarbeit, die das Verhältnis zu den Klienten belasten müssen.

In der Verwaltung werden Entscheidungen mittels rechtlich festgelegter Ermessensspielräume (unbestimmte Rechtsbegriffe, wie auch das Kindeswohl) getroffen. Deren Konkretisierung durch die Sozialarbeiter im Sinne von Zweckrationalisierung wird zur Durchführung der Verwaltungsakte zwar für notwendig erachtet, aber zum Beispiel Ortmann stellt dazu fest, dass sozialpädagogisches Handeln selbst nicht zweckrationalisierbar ist. Dies ist auch nicht empfehlenswert, damit der Sozialarbeiter in unvorhersehbaren Situationen handlungsfähig bleibt. Sozialarbeit im Jugendamt befindet sich also in der Zwickmühle zwischen verwaltungstechnischer Entscheidungslogik und notwendiger sozialpädagogischer Handlungsfreiheit. Eine Konkretisierung des Kindeswohls – und nicht nur seiner Gefährdung – als Entscheidungskriterium für sozialpädagogisches Handeln durch Sozialarbeiter findet nicht statt. Im Jugendamt konzentriert man sich hingegen nur auf die Gefährdungstatbestände von Kindeswohl.

Entscheidungen zum Kindeswohl sind nicht ohne die Eltern als exponierte Beziehungspersonen, von denen die Kinder nicht nur emotionell, sondern elementar in ihren Entwicklungsmöglichkeiten abhängig sind (Was die Eltern straft, straft auch das Kind, selbst wenn es sich um „schlechte“ Eltern handelt.), überhaupt denkbar. Einhaltung der Elternrechte und der Datenschutz sowie die mündige Einbeziehung der Eltern in den Hilfeprozess sind maßgeblich für Entscheidungen im Sinne des Kindeswohls. So bedeutet die Wahl der „am wenigsten schädlichen Alternative“ bei Vormundschaftsverfahren eine Entscheidung zum Kindeswohl, den Kindern die bestehenden Beziehungen zu ihren psychologischen Eltern zu erhalten. Darüber hinaus stellen Goldstein u.a. klar, dass weder Mitarbeiter des Jugendamtes noch die anderen beteiligten Spezialisten für das Kind die Eltern ersetzen können und sich davor hüten müssen zu entscheiden oder zu handeln, als wären sie die „besseren Eltern“. Damit würden sie den „Kampf ums Kind“ mit den Eltern eingehen und Dramen, wie einleitend beschrieben, erst ermöglichen.

Es wurden also Perspektiven entwickelt, die zu Entscheidungen im Sinne des Kindeswohls führen, aber diese Orientierungen lassen sich nicht, wie aus verwaltungstechnischer Sicht notwendig, soweit konkretisieren, als dass sich für jeden Bürger und jedes Kind zuverlässige und korrekte Verwaltungsabläufe garantiert herstellen lassen. Auf der Suche nach Definitionen, die Kindeswohl soweit konkretisieren, dass sie sich als Kriterien für sozialarbeiterische Entscheidungen eignen, konnten aber strenggenommen immer nur Definitionen von Gefährdungen des Kindeswohls gefunden werden. Hierfür waren Goldsteins u.a. Minimalkriterien für Eingriffe und Maas Zusammenstellung richterlicher Entscheidungskriterien dargestellt worden. Auch bei Problemen der Diagnose, die unabhängig von dem Willen der Beteiligten, diese lediglich als Informationsquellen benutzt, liegt das Augenmerk hauptsächlich in der Feststellung von Gefährdungstatbeständen. Der Schluss liegt nahe, dass Kriterien, die der verwaltungstechnisch für Entscheidungen über die Zukunft der Kinder konkretisiert werden, sich immer nur auf den Gefährdungsanteil beziehen können. Bei der Frage der Methoden von Sozialarbeit, also Diagnose versus Aushandlung, erscheinen Kindesschutz und Kindeswohlrealisierung denn auch als unvereinbare Gegensätze.

Mit dem Umweg über die Eltern stellt sich das Vorhaben, Kindeswohl zu realisieren als ein sehr indirektes Unterfangen dar. Der Sozialarbeiter soll dem Kind die Eltern erhalten und soll dies bewerkstelligen, in dem er sie zur Zusammenarbeit motiviert. Das eingangs beschriebene Drama im Jugendamt beruht nicht auf individuellen Kommunikationsschwierigkeiten zwischen Sozialarbeiter und Klienten. Es waren vier Quellen, die ein Misstrauen der Eltern gegenüber dem Jugendamt rechtfertigen, festzustellen: Erstens gab es im Nationalsozialismus den Versuch, die Definitionsmacht über Kindeswohl staatlichen Interessen zu unterwerfen; zweitens stellt das Verhältnis Jugendamt zu Bürger ein Machtgefälle dar; drittens gibt es keine zuverlässigen Kriterien von Kindeswohl, an denen sie sich orientieren könnten; und viertens stellt das diagnostische Verfahren eine Entmündigung der Eltern dar.

Auf der anderen Seite der Sozialarbeit, im Leistungsbereich des Jugendamtes – also dort, wo der Sozialarbeiter sich, nach dem Vorbild einer intakten Familie, darum bemüht mit den Eltern gemeinsam bessere Lebensbedingungen für die Kinder zu schaffen – werden kaum Ziele für Kindeswohl diskutiert. Die Sozialarbeiter sind hier allein gelassen und müssen daher auf ihre persönlichen Vorstellungen von mehr oder weniger gelungener Kindheit zurückgreifen. Das hat den Effekt, dass Sozialarbeiter nur schwer Distanz zu den Lebensbedingungen der Kinder halten können und zu kontraproduktivem Gekränktsein neigen. Eine systematische Diskussion von Kindeswohl für den Bereich der Hilfen könnte ebenfalls zu einer Konfliktreduzierung in der Jugendamtsarbeit beitragen, da auch hier die Zusammenarbeit mit den Eltern allzu leicht in den Kampf um das Kind umschlägt.

Warum sich die Sozialarbeit nicht speziell mit dem Begriff Kindeswohl auseinandersetzt, könnte daran liegen, dass sich die Sozialarbeit im Jugendbereich schon aus ihrem Selbstverständnis heraus in allen ihrem Bemühungen um Theorien und Methoden immer auch nach so etwas wie dem Kindeswohl strebt. So lädt Burkhard Müllers Methode dazu ein, beide Seiten der Sozialarbeit in ihrer vollen Tragweite ernst zu nehmen. Einerseits sind die Richtlinien der Verwaltung nicht nur als lästige Zusatzbelastung zu verstehen, sondern sie sind zu nutzen. In der Einhaltung der Verwaltungsregeln sieht Müller die Möglichkeit, dem individuellen Impuls des Sozialarbeiter entgegenzuwirken, übereilt in eine Familie einzugreifen und damit unter Umständen mehr Schaden für die Situation des Kindes anzurichten, als dass er hilft. Andererseits stellt Müller die Kriterien fest, die den Sozialarbeiter davor bewahren, dass seine Entscheidungen willkürlich erscheinen: Seine Entscheidung muss zugleich der rechtlichen Überprüfung und der fachlichen Kontrolle standhalten sowie die Vorstellungen der Beteiligten einbeziehen. Will der Sozialarbeiter allerdings die Beteiligten als mündige Mitstreiter um das Kindeswohl ernst nehmen, muss er auch mit einem „Nein“ derselben rechnen, ohne dies sogleich als Scheitern des Hilfeangebots zu werten. Ein solches Nein muss er allerdings nicht einfach nur hinnehmen, vielmehr muss er in die Auseinandersetzung gehen. Müller berichtet von glücklichen Ergebnissen von Auseinandersetzungen, die zu beiderseitig getragenen Kompromissen führten. Solche glücklichen Umstände sind zwar für den Einzelfall des Kindes begrüßenswert, aber keine Grundlage für die wünschenswerte Sicherstellung von Kindeswohl.

Das Kindeswohl ist dort am besten aufgehoben, wo der Sozialarbeiter nicht nur die Menschenwürde zum Ziel hat, sondern es bereits als Arbeitsform in seiner Zusammenarbeit mit den Klienten praktiziert. So gesehen bedeutet Kindeswohl das tägliche Ringen ohne erhobenen Zeigefinger um menschenwürdigen und damit kindgerechten Umgang miteinander und lebenswerte Bedingungen. Dennoch muss eine Diskussion über das, was die Gesellschaft jedem einzelnen Kind wünscht, im Jugendamt, wo tagtäglich über die Perspektiven von Kindern entschieden wird, geführt werden. Bisher jedenfalls wurde das viel zu wenig getan.

2)     Ausblick

Nimmt man das Ergebnis der Arbeit ernst, so sollte man sich nichts vormachen: Entscheidungen für Fremdunterbringungen, die vom Sozialarbeiter unabhängig vom Willen der Beteiligten getroffen werden, sind im Grunde genommen keine Entscheidungen zum Kindeswohl, sondern Entscheidungen zur Abwehr von Gefährdungen des Kindes. Und dieser Unterschied ist nicht so gering, wie man vielleicht annehmen mag. Hier von Kindeswohl zu sprechen, scheint eine verhängnisvolle Verquickung zu sein: wenn es sich um eine Gefahrenabwehr handelt, sollte es auch, im Sinne der Konfliktreduzierung für die Kinder und der Erarbeitung von Entwicklungschancen, als solche bezeichnet und behandelt werden.

Als Entscheidungen zur Fremdunterbringung zum Wohle des Kindes können schließlich nur jene bezeichnet werden, bei denen Kinder und Eltern zu diesem Schritt gleichermaßen bereit sind und ihn mit einem in einer schwierigen Situation erzielbaren Höchstmaß an Freiwilligkeit tragen können. Das gleiche gilt für Entscheidungen im Bereich der Hilfeleistungen, bei denen die Eltern und Kinder in Zusammenarbeit mit dem Sozialarbeiter Hilfen wollen und annehmen können. Dabei gibt es in der Praxis sicher viele Nuancen, die von der vollen Freiwilligkeit der Beteiligten bis zur Gleichgültigkeit und Skepsis bei den Eltern reichen. Die Sozialarbeit im Amt besteht darin, die Familien darauf vorzubereiten, Hilfen anzunehmen und für ihre Zwecke, die zugleich die Zwecke des Sozialarbeiters sein müssen, zu nutzen.

So hat der Begriff Kindeswohl auch nicht seinen Ort im Gerichtsverfahren, wo der „Kampf um das Kind“ bereits voll entbrannt ist. Die psychischen Dramen, die dort stattfinden, die Polemik und die gegenseitigen Demütigungen könnten damit reduziert werden, wenn klare Grenzen von Kindesgefährdungen formuliert werden und die Kindesrechte allein Grundlage der richterlichen Entscheidung sein könnten. Solche Entscheidungen könnten auch einfach strukturierte Eltern leichter verstehen.

So könnte auch die Sozialarbeiterin aus dem Anfangs dargestellten Beispiel anders an die Eltern herantreten: „Diese und jene Gefahren liegen für die Kinder vor und von Rechts wegen müssen diese Tatbestände beseitigt werden. Sie als Eltern haben etwas Verbotenes getan und müssen die Konsequenzen tragen.“ In dieser Wendung des Gespräches hätten die Eltern die Chance, ihr Fehlverhalten leichter, nämlich als Rechtsübertretung, zu erkennen (anders als im Beispiel, bei dem die Eltern umgekehrt mit der Trennung von ihren Kindern konfrontiert werden, bevor sie Einsicht in die Konsequenzen ihres Verhaltens hatten). Mit der eindeutigen Ausrichtung sozialarbeiterischer Entscheidungen in Fällen von klarer Kindeswohlgefährdung auf die Abwehr der Gefahrenquellen, anstelle eines krampfhaften Versuchs, das Kindeswohl realisieren zu wollen, müsste den Eltern auch nicht eine für diese schwer verständliche Erziehungsunfähigkeit nachgewiesen werden, die sie als ganze Personen in Frage stellt. Eltern, die die Rechte ihrer Kinder verletzen, müssen dafür die Konsequenzen tragen: im beschriebenen Fall ist es, nicht mehr für die Kinder sorgen zu „dürfen“. Auf dieser Grundlage wäre die Frage der Fremdunterbringung nicht mehr die eines Kampfes der Erwachsenen um die Kinder. Allein das Recht der Kinder käme zur Geltung, und Eltern, die in einem entscheidenden aber abgrenzbaren Punkt ihrer Erziehung gefehlt haben, könnten weiterhin Eltern für ihre Kinder sein, auch wenn diese woanders untergebracht sind.

Sollte die Sozialarbeiterin sich nicht zu diesem Schritt entschließen sollte sie auch die Frage der Gefahrenabwehr und der Fremdunterbringung ganz außer Acht lassen und sich gestützt durch die Institution mit den Eltern ganz auf die Erarbeitung von Kindeswohl konzentrieren. Dann sähe auch das Gespräch im Jugendamt anders aus. Da sollten zum Beispiel die Eltern ihre tatsächliche Perspektive für die Zukunft der Kinder darlegen und darlegen können, ohne zugleich den Ansprüchen der Sozialarbeiterin oder des Staates genügen zu müssen. Das wäre die beste Voraussetzung für die Eltern, selbst die Felder zu entwickeln, auf denen ihnen geholfen werden soll. Hiermit wäre das mögliche Höchstmaß an Kindeswohl erreicht.

 

 
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