Das Ergebnis der Arbeit ist überraschend: Das
Kindeswohl als Entscheidungskriterium in der Sozialarbeit
im Jugendamt gibt es genau genommen weder bei der Ausübung des staatlichen
Wächteramtes noch bei der Bewilligung von Hilfen zur Erziehung:
Dort, wo Entscheidungskriterien für die Ausübung des Wächteramtes
entwickelt werden, geht es nicht um Kindeswohl, sondern bestenfalls um die
Abwehr von Kindeswohlgefährdungen.
Dort, wo sich in der Zusammenarbeit mit den Eltern um Kindeswohl
bemüht wird, werden weder für noch von der Sozialarbeit zuverlässige
Kriterien entwickelt und Kindeswohl verliert sich in Einzelfallbedingungen
und individuellen Vorstellungen.
Historisch ist das Problem in der Auseinandersetzung
um die Definitionsmacht über das Kindeswohl zwischen Staat und Bürger
entstanden. Im Nationalsozialismus hat ein totalitärer Staat diese
Definitionsmacht tendenziell vollständig an sich gerissen und die
Eltern als Erziehungsinstanz entmündigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg
wurde zwar das Kräftegleichgewicht zwischen Staat und Bürger durch
rechtsstaatliche Verhältnisse prinzipiell wieder hergestellt. Die
Reibungen um die Definitionsmacht blieben aber bestehen, da das
Kindeswohl weiter im Spannungsfeld zwischen Elternrechten und staatlichem
Wächteramt angesiedelt blieb. Veränderungen gab es mit dem KJHG
dahingehend, dass die Jugendhilfe nicht erst dann eingreifen sollte,
wenn Gefährdungen vorliegen oder unmittelbar bevorstehen, sondern
auch präventiv Hilfestellung geben kann. Allerdings setzt das voraus,
dass Kriterien für die Bewilligung von Hilfeleistungen, also Kriterien
für Kindeswohl jenseits der Gefährdung, formuliert werden.
Der Staat kann seine Aufgabe als Wächter des
Kindeswohls nur mittels einer Behörde wahrnehmen: dem Jugendamt.
Dadurch wird in die Auseinandersetzung um das Kindeswohl ein schwerfälliger
bürokratischer Apparat hineingetragen. Dessen Zuständigkeiten sind
begrenzt, und die Kommunikationsformen in der Verwaltung genügen
den Ansprüchen von Vermittlung der Lebensverhältnisse häufig nicht.
Aus der Doppelstruktur des Jugendamtes als Eingriffs- und Leistungsbehörde
ergeben sich notwendigerweise Spannungen in der Sozialarbeit, die
das Verhältnis zu den Klienten belasten müssen.
In der Verwaltung werden Entscheidungen
mittels rechtlich festgelegter Ermessensspielräume (unbestimmte
Rechtsbegriffe, wie auch das Kindeswohl) getroffen. Deren Konkretisierung
durch die Sozialarbeiter im Sinne von Zweckrationalisierung wird
zur Durchführung der Verwaltungsakte zwar für notwendig erachtet,
aber zum Beispiel Ortmann stellt dazu fest, dass sozialpädagogisches
Handeln selbst nicht zweckrationalisierbar ist. Dies ist auch nicht
empfehlenswert, damit der Sozialarbeiter in unvorhersehbaren Situationen
handlungsfähig bleibt. Sozialarbeit im Jugendamt befindet sich also
in der Zwickmühle zwischen verwaltungstechnischer Entscheidungslogik
und notwendiger sozialpädagogischer Handlungsfreiheit. Eine Konkretisierung
des Kindeswohls – und nicht nur seiner Gefährdung – als Entscheidungskriterium
für sozialpädagogisches Handeln durch Sozialarbeiter findet nicht
statt. Im Jugendamt konzentriert man sich hingegen nur auf die Gefährdungstatbestände
von Kindeswohl.
Entscheidungen zum Kindeswohl sind nicht ohne
die Eltern als exponierte Beziehungspersonen, von denen die Kinder
nicht nur emotionell, sondern elementar in ihren Entwicklungsmöglichkeiten
abhängig sind (Was die Eltern straft, straft auch das Kind, selbst
wenn es sich um „schlechte“ Eltern handelt.), überhaupt denkbar.
Einhaltung der Elternrechte und der Datenschutz sowie die mündige
Einbeziehung der Eltern in den Hilfeprozess sind maßgeblich für
Entscheidungen im Sinne des Kindeswohls. So bedeutet die Wahl der
„am wenigsten schädlichen Alternative“ bei Vormundschaftsverfahren
eine Entscheidung zum Kindeswohl, den Kindern die bestehenden Beziehungen
zu ihren psychologischen Eltern zu erhalten. Darüber hinaus stellen
Goldstein u.a. klar, dass weder Mitarbeiter des Jugendamtes noch
die anderen beteiligten Spezialisten für das Kind die Eltern ersetzen
können und sich davor hüten müssen zu entscheiden oder zu handeln,
als wären sie die „besseren Eltern“. Damit würden sie den „Kampf
ums Kind“ mit den Eltern eingehen und Dramen, wie einleitend beschrieben,
erst ermöglichen.
Es wurden also Perspektiven entwickelt, die zu
Entscheidungen im Sinne des Kindeswohls führen, aber diese Orientierungen
lassen sich nicht, wie aus verwaltungstechnischer Sicht notwendig,
soweit konkretisieren, als dass sich für jeden Bürger und jedes
Kind zuverlässige und korrekte Verwaltungsabläufe garantiert herstellen
lassen. Auf der Suche nach Definitionen, die Kindeswohl soweit konkretisieren,
dass sie sich als Kriterien für sozialarbeiterische Entscheidungen
eignen, konnten aber strenggenommen immer nur Definitionen von Gefährdungen
des Kindeswohls gefunden werden. Hierfür waren Goldsteins u.a. Minimalkriterien
für Eingriffe und Maas Zusammenstellung richterlicher Entscheidungskriterien
dargestellt worden. Auch bei Problemen der Diagnose, die unabhängig
von dem Willen der Beteiligten, diese lediglich als Informationsquellen
benutzt, liegt das Augenmerk hauptsächlich in der Feststellung von
Gefährdungstatbeständen. Der Schluss liegt nahe, dass Kriterien,
die der verwaltungstechnisch für Entscheidungen über die Zukunft
der Kinder konkretisiert werden, sich immer nur auf den Gefährdungsanteil
beziehen können. Bei der Frage der Methoden von Sozialarbeit, also
Diagnose versus Aushandlung, erscheinen Kindesschutz und Kindeswohlrealisierung
denn auch als unvereinbare Gegensätze.
Mit dem Umweg über die Eltern stellt sich das
Vorhaben, Kindeswohl zu realisieren als ein sehr indirektes Unterfangen
dar. Der Sozialarbeiter soll dem Kind die Eltern erhalten und soll
dies bewerkstelligen, in dem er sie zur Zusammenarbeit motiviert.
Das eingangs beschriebene Drama im Jugendamt beruht nicht auf individuellen
Kommunikationsschwierigkeiten zwischen Sozialarbeiter und Klienten.
Es waren vier Quellen, die ein Misstrauen der Eltern gegenüber dem
Jugendamt rechtfertigen, festzustellen: Erstens gab es im Nationalsozialismus
den Versuch, die Definitionsmacht über Kindeswohl staatlichen Interessen
zu unterwerfen; zweitens stellt das Verhältnis Jugendamt zu Bürger
ein Machtgefälle dar; drittens gibt es keine zuverlässigen Kriterien
von Kindeswohl, an denen sie sich orientieren könnten; und viertens
stellt das diagnostische Verfahren eine Entmündigung der Eltern
dar.
Auf der anderen Seite der Sozialarbeit,
im Leistungsbereich des Jugendamtes – also dort, wo der Sozialarbeiter
sich, nach dem Vorbild einer intakten Familie, darum bemüht mit
den Eltern gemeinsam bessere Lebensbedingungen für die Kinder zu
schaffen – werden kaum Ziele für Kindeswohl diskutiert. Die Sozialarbeiter
sind hier allein gelassen und müssen daher auf ihre persönlichen
Vorstellungen von mehr oder weniger gelungener Kindheit zurückgreifen.
Das hat den Effekt, dass Sozialarbeiter nur schwer Distanz zu den
Lebensbedingungen der Kinder halten können und zu kontraproduktivem
Gekränktsein neigen. Eine systematische Diskussion von Kindeswohl
für den Bereich der Hilfen könnte ebenfalls zu einer Konfliktreduzierung
in der Jugendamtsarbeit beitragen, da auch hier die Zusammenarbeit
mit den Eltern allzu leicht in den Kampf um das Kind umschlägt.
Warum sich die Sozialarbeit nicht speziell mit
dem Begriff Kindeswohl auseinandersetzt, könnte daran liegen, dass
sich die Sozialarbeit im Jugendbereich schon aus ihrem Selbstverständnis
heraus in allen ihrem Bemühungen um Theorien und Methoden immer
auch nach so etwas wie dem Kindeswohl strebt. So lädt Burkhard Müllers
Methode dazu ein, beide Seiten der Sozialarbeit in ihrer vollen
Tragweite ernst zu nehmen. Einerseits sind die Richtlinien der Verwaltung
nicht nur als lästige Zusatzbelastung zu verstehen, sondern sie
sind zu nutzen. In der Einhaltung der Verwaltungsregeln sieht Müller
die Möglichkeit, dem individuellen Impuls des Sozialarbeiter entgegenzuwirken,
übereilt in eine Familie einzugreifen und damit unter Umständen
mehr Schaden für die Situation des Kindes anzurichten, als dass
er hilft. Andererseits stellt Müller die Kriterien fest, die den
Sozialarbeiter davor bewahren, dass seine Entscheidungen willkürlich
erscheinen: Seine Entscheidung muss zugleich der rechtlichen Überprüfung
und der fachlichen Kontrolle standhalten sowie die Vorstellungen
der Beteiligten einbeziehen. Will der Sozialarbeiter allerdings
die Beteiligten als mündige Mitstreiter um das Kindeswohl ernst
nehmen, muss er auch mit einem „Nein“ derselben rechnen, ohne dies
sogleich als Scheitern des Hilfeangebots zu werten. Ein solches
Nein muss er allerdings nicht einfach nur hinnehmen, vielmehr muss
er in die Auseinandersetzung gehen. Müller berichtet von glücklichen
Ergebnissen von Auseinandersetzungen, die zu beiderseitig getragenen
Kompromissen führten. Solche glücklichen Umstände sind zwar für
den Einzelfall des Kindes begrüßenswert, aber keine Grundlage für
die wünschenswerte Sicherstellung von Kindeswohl.
Das Kindeswohl ist dort am besten aufgehoben,
wo der Sozialarbeiter nicht nur die Menschenwürde zum Ziel hat,
sondern es bereits als Arbeitsform in seiner Zusammenarbeit mit
den Klienten praktiziert. So gesehen bedeutet Kindeswohl das tägliche
Ringen ohne erhobenen Zeigefinger um menschenwürdigen und damit
kindgerechten Umgang miteinander und lebenswerte Bedingungen. Dennoch
muss eine Diskussion über das, was die Gesellschaft jedem einzelnen
Kind wünscht, im Jugendamt, wo tagtäglich über die Perspektiven
von Kindern entschieden wird, geführt werden. Bisher jedenfalls
wurde das viel zu wenig getan.
Nimmt man das Ergebnis der Arbeit ernst, so sollte
man sich nichts vormachen: Entscheidungen für Fremdunterbringungen,
die vom Sozialarbeiter unabhängig vom Willen der Beteiligten getroffen
werden, sind im Grunde genommen keine Entscheidungen zum Kindeswohl,
sondern Entscheidungen zur Abwehr von Gefährdungen des Kindes. Und
dieser Unterschied ist nicht so gering, wie man vielleicht annehmen
mag. Hier von Kindeswohl zu sprechen, scheint eine verhängnisvolle
Verquickung zu sein: wenn es sich um eine Gefahrenabwehr handelt,
sollte es auch, im Sinne der Konfliktreduzierung für die Kinder
und der Erarbeitung von Entwicklungschancen, als solche bezeichnet
und behandelt werden.
Als Entscheidungen zur Fremdunterbringung zum
Wohle des Kindes können schließlich nur jene bezeichnet werden,
bei denen Kinder und Eltern zu diesem Schritt gleichermaßen bereit
sind und ihn mit einem in einer schwierigen Situation erzielbaren
Höchstmaß an Freiwilligkeit tragen können. Das gleiche gilt für
Entscheidungen im Bereich der Hilfeleistungen, bei denen die Eltern
und Kinder in Zusammenarbeit mit dem Sozialarbeiter Hilfen wollen
und annehmen können. Dabei gibt es in der Praxis sicher viele Nuancen,
die von der vollen Freiwilligkeit der Beteiligten bis zur Gleichgültigkeit
und Skepsis bei den Eltern reichen. Die Sozialarbeit im Amt besteht
darin, die Familien darauf vorzubereiten, Hilfen anzunehmen und
für ihre Zwecke, die zugleich die Zwecke des Sozialarbeiters sein
müssen, zu nutzen.
So hat der Begriff Kindeswohl auch nicht seinen
Ort im Gerichtsverfahren, wo der „Kampf um das Kind“ bereits voll
entbrannt ist. Die psychischen Dramen, die dort stattfinden, die
Polemik und die gegenseitigen Demütigungen könnten damit reduziert
werden, wenn klare Grenzen von Kindesgefährdungen formuliert werden
und die Kindesrechte allein Grundlage der richterlichen Entscheidung
sein könnten. Solche Entscheidungen könnten auch einfach strukturierte
Eltern leichter verstehen.
So könnte auch die Sozialarbeiterin aus dem Anfangs
dargestellten Beispiel anders an die Eltern herantreten: „Diese
und jene Gefahren liegen für die Kinder vor und von Rechts wegen
müssen diese Tatbestände beseitigt werden. Sie als Eltern haben
etwas Verbotenes getan und müssen die Konsequenzen tragen.“ In dieser
Wendung des Gespräches hätten die Eltern die Chance, ihr Fehlverhalten
leichter, nämlich als Rechtsübertretung, zu erkennen (anders als
im Beispiel, bei dem die Eltern umgekehrt mit der Trennung von ihren
Kindern konfrontiert werden, bevor sie Einsicht in die Konsequenzen
ihres Verhaltens hatten). Mit der eindeutigen Ausrichtung sozialarbeiterischer
Entscheidungen in Fällen von klarer Kindeswohlgefährdung auf die
Abwehr der Gefahrenquellen, anstelle eines krampfhaften Versuchs,
das Kindeswohl realisieren zu wollen, müsste den Eltern auch nicht
eine für diese schwer verständliche Erziehungsunfähigkeit nachgewiesen
werden, die sie als ganze Personen in Frage stellt. Eltern, die
die Rechte ihrer Kinder verletzen, müssen dafür die Konsequenzen
tragen: im beschriebenen Fall ist es, nicht mehr für die Kinder
sorgen zu „dürfen“. Auf dieser Grundlage wäre die Frage der Fremdunterbringung
nicht mehr die eines Kampfes der Erwachsenen um die Kinder. Allein
das Recht der Kinder käme zur Geltung, und Eltern, die in einem
entscheidenden aber abgrenzbaren Punkt ihrer Erziehung gefehlt haben,
könnten weiterhin Eltern für ihre Kinder sein, auch wenn diese woanders
untergebracht sind.
Sollte die Sozialarbeiterin sich nicht zu diesem
Schritt entschließen sollte sie auch die Frage der Gefahrenabwehr
und der Fremdunterbringung ganz außer Acht lassen und sich gestützt
durch die Institution mit den Eltern ganz auf die Erarbeitung von
Kindeswohl konzentrieren. Dann sähe auch das Gespräch im Jugendamt
anders aus. Da sollten zum Beispiel die Eltern ihre tatsächliche
Perspektive für die Zukunft der Kinder darlegen und darlegen können,
ohne zugleich den Ansprüchen der Sozialarbeiterin oder des Staates
genügen zu müssen. Das wäre die beste Voraussetzung für die Eltern,
selbst die Felder zu entwickeln, auf denen ihnen geholfen werden
soll. Hiermit wäre das mögliche Höchstmaß an Kindeswohl erreicht.