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Tatjana Lausch, Matr. Nr. 2249715
Hausarbeit im Rahmen des Seminars: HS 12542 Depression und Suicidalität

bei Jürgen Körner

 Zur Gegenübertragungsdiagnostik bei suizidalen Patienten nach Kind

Vorbemerkung: ein persönliches Erlebnis

Zum Thema, welche Gefühle suizidale Personen bei anderen auslösen können, möchte ich zunächst eine eigene Begegnung schildern. Sie fand bereits vor vielen Jahren statt, als ich noch Philosophie studierte und mich noch wenig mit psychologischen Phänomenen beschäftigte. Diese Begegnung dauerte nur einen Abend, aber hinterließ in mir einen bis heute andauernden, tiefen Eindruck. Ich kann mich weniger an die Umstände und an das Aussehen der Person erinnern, als an das, was sie in mir an Gefühlen auslöste.

Schilderung: Im Anschluß an ein Seminar ging ich mit einigen Kommilitonen ein "Bier" trinken. Es war das erste Mal, und wir hatten uns bisher erst wenige Male im Seminar gesehen. Die Beziehung zwischen den Personen kann man also als sehr oberflächlich bezeichnen. Einer von ihnen verwickelte mich sehr eindringlich in ein Gespräch und berichtete mir sehr schnell von seinen Suizidgedanken, seinen bisher mißlungenen Versuchen und versicherte mir eindringlich, sein Vorhaben demnächst erfolgreich in die Tat umzusetzen. Innerhalb kurzer Zeit konnte er mich unter Druck setzen, mich für seinen zukünftigen Tod verantwortlich zu fühlen.

Allein meine Irritation, daß diese Vertraulichkeit unserem oberflächlichen Verhältnis nicht entsprach, ermöglichte es mir, seinen Druck abzuwehren. Ich setzte ihm auseinander, daß er mich erpressen wolle. Der Erfolg war, daß das Gespräch bald endete und ich den Mann nie mehr wiedersah.

Ich bin überzeugt, hätte ich den leisesten Ansatz gemacht, mich in sein Gebäude einzufügen, hätten wir uns noch oft getroffen und immer ein Gesprächsthema gehabt.

Diese Begegnung blieb mir aus zweierlei Gründen so lebhaft in Erinnerung: Erstens hatte ich anschließend ein gutes Gefühl, mich nicht in eine aussichtslose Beziehung verstrickt zu haben. Zweitens blieb in mir der Stachel der Ungewißheit zurück, daß er sich vielleicht doch umgebracht hat.

Auftreten des Begriffs Gegenübertragung in der Psychoanalyse

Im Jahre 1910 behandelt Freud den Begriff Gegenübertragung zum ersten Mal in seinen veröffentlichten Schriften. Im Rahmen seines Eröffnungsvortrages zum Zweiten Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in Nürnberg resümiert Freud die Fortschritte der Psychoanalyse und differenziert den Fortschritt innerhalb der Theorie in Zuwachs des analytischen Wissens und Verbesserung der Technik. Neben der Wendung von der kathartischen Kur zur Aufspürung und Beseitigung der Widerstände des Patienten beschreibt Freud eine weitere Neuerung der psychoanalytischen Technik, die den Arzt selbst betrifft. Der Arzt ist in seinem unbewußten Fühlen dem Einfluß des Patienten ausgesetzt und Freud erhebt die Forderung, daß der Arzt die Gegenübertragung in sich erkennen und bewältigen müsse. Freuds Erfahrungen haben gezeigt, daß der Psychoanalytiker in der Kur nur soweit kommt, wie es seine eigenen Komplexe und inneren Widerstände gestatten. Freud verlangt daher eine fortlaufende Selbstanalyse des Arztes. Später bezweifelt Freud, ob eine Selbstanalyse ausreiche und betont im weiteren die Notwendigkeit einer Lehranalyse.

Eine weitere kurze Erörterung der Gegenübertragung nahm Freud 1914 in seinem Aufsatz Bemerkungen über die Übertragungsliebe vor. Freud greift einen starken Widerstand einer Patientin auf, der den Fortgang der Kur ernsthaft in Gefahr bringt, nämlich den, wenn sich eine Patientin wie ein anderes sterbliches Weib in den analysierenden Arzt verliebt und dies eindeutig äußert. Gesetzt den Fall Arzt und Patientin lösen die ausweglose Situation, indem sie sich trennen und die Kur abbrechen, wird der Zustand der Patientin einen weiteren Therapieversuch unternehmen. Freuds Erfahrungen gehen dahin, daß die Patientin sich in den nächsten Arzt verliebt, da dies Resultat ihrer Krankheit ist. D.h. sie wird ihr Symptom wiederholen und das ist ihr Widerstand gegen die Bearbeitung ihrer Krankheit. Der Arzt sollte also auf diese "Eroberung" nicht stolz sein oder sie seinen persönlichen Vorzügen anrechnen, vielmehr wird sie durch die analytische Situation erzwungen. Er sollte aber gewarnt sein vor einer bei ihm bereitliegenden Gegenübertragung.

Die Möglichkeit, die Kur unter der Aufforderung zur Unterdrückung der Liebe, also unter Triebverzicht fortzusetzen, verwirft Freud, da der Arzt gleichsam das Verdrängte nur zum Bewußtsein gerufen hätte, um es erschreckt von neuem zu verdrängen. Außerdem wird die gekränkte Geliebte es nicht versäumen, sich an ihm zu rächen. Ebenso wenig rät Freud zu einem Mittelweg, bei dem der Arzt die zärtlichen Gefühle erwidert und bei allen körperlichen Zärtlichkeiten ausweicht. Freud mahnt hierbei an die strengste Wahrhaftigkeit, die vom Patienten in der Therapie verlangt wird und auch vom Arzt eingehalten werden muß. Auch beherrscht sich der Arzt nicht so gut, als daß er sich nicht plötzlich mehr an die Patientin angenähert hätte, als er beabsichtigt hatte. Gerade hier erkennt man wie wichtig es ist, daß der Arzt sich seiner Gegenübertragungen bewußt ist.

Aus diesen Überlegungen resultierend schreibt Freud erstmals explizit die technische Empfehlung, die Behandlung habe in Abstinenz zu erfolgen, welche in die psychoanalytische Literatur als Abstinenzregel eingegangen ist. "... ich (Freud) will den Grundsatz aufstellen, daß man Bedürfnis und Sehnsucht als zur Arbeit und Veränderung treibende Kräfte bei der Kranken bestehen lassen und sich hüten muß, dieselben durch Surrogate zu beschwichtigen. Anderes als Surrogate könnte man ja nicht bieten, da die Kranke infolge ihres Zustandes, solange ihre Verdrängungen nicht behoben sind, einer wirklichen Befriedigung nicht fähig ist".

Der Arzt habe sich also aus mehreren Gründen davor zu hüten die Liebesangebote einer Patientin zu erwidern: Die Objektwahl der Patientin resultiert nicht aus einer freien Wahl aufgrund ihrer Wünsche, sondern ist erzwungen durch die notwendige Intimität des psychoanalytischen Settings und der Übertragung, die die Patientin aufgrund ihrer Krankheit auf den Arzt projiziert. Es ist gerade die Arbeit mit den Übertragungsinhalten, mit der der Arzt die größten Chancen hat, anhaltende Fortschritte in der Therapie zu erreichen. Auch wenn der Arzt meint, mit dem Erwidern der Liebesbezeugungen könnte er eine notwendige Beruhigung der analytischen Arbeit erreichen, so gibt es für diese Liebe keine Perspektive im wirklichen Leben und bleibt auch von daher immer ein Surrogat.

Soweit man den Herausgebern der Studienausgabe vertrauen darf, waren dies die wenigen Stellen, in denen sich Freud ausdrücklich zum Begriff Gegenübertragung äußerte.

Charakterisierung der Gegenübertragung in der Therapie von suizidalen Patienten

Jürgen Kind versteht in seinem Aufsatz Manipuliertes und Aufgegebenes Objekt unter Gegenübertragung zusammen mit Paula Heimann (1950) "alle Gefühle, die der Analytiker seinem Patienten gegenüber erlebt". Mit Langs (1978) betont er zusätzlich den interaktionellen Aspekt, unter dem Gegenübertragungsphänomene des Analytikers ohne die seelischen Vorgänge des Patienten nicht verstanden werden können und umgekehrt.

Bei suizidalen Patienten treten beim Analytiker in der Regel intensive Gegenübertragungen auf, die von langer Dauer sind. "Sie nisten sich ein, begleiten den Therapeuten auf dem Heimweg. Sie sind nicht flüchtig, lassen sich nicht auf die Therapiestunde begrenzen...Typischer Weise kann sich der Therapeut dieser Gefühle nicht erwehren, sie ‘springen’ ihn sozusagen an." Suizidale Patienten können auch erfahrene Therapeuten in stärkerem Maße beunruhigen.

Kind nimmt als Mechanismus für die Gegenübertragung an, daß der Therapeut sich mit einem bestimmten Persönlichkeitsanteil des Patienten identifiziert. Von daher weist er der Objektbeziehung zwischen Patient und Therapeut eine besondere Bedeutung zu. Er setzt voraus, daß Gegenübertragungsgefühle eine Antwort auf komplementäre Zustände innerer Objekt- und Selbstbilder des Patienten sind.

Seine These lautet: Der Therapeut reagiert mit seinen Gefühlen nicht allgemein auf die Suizidalität des Patienten, sondern sie sind eine an ihn gestellte therapeutische Aufgabe. Der Patient projiziert Gefühle, mit denen sich der Therapeut identifiziert (projektive Identifikation), die er selbst nicht bewältigen kann. Der Therapeut hat nun die Aufgabe diese Gefühle in seiner reiferen Psyche zu verarbeiten.

Die Komplementarität der Gefühle des Patienten und des Therapeuten erläutert Kind an den beiden Polen von Gegenübertragungsgefühlen: 1. Der Pol der Objektsicherung: Während hier sich der Therapeut mit dem Patienten verstrickt fühlt, nimmt er beim Patienten an, daß dieser sein scheinbar gefährlich schwindendes Objekt mit Hilfe seiner Suizidalität unter Kontrolle zu bringen hofft. 2. Der Pol der Objektaufgabe: Während hier der Therapeut befürchtet, vom Patienten verlassen zu werden, nimmt er beim Patienten an, daß diesem sein Objekt erlebnismäßig fast nicht mehr erreichbar ist. Die Annahme der Komlementarität innerhalb der Objektbindung ermöglicht es Kind von seinen Gegenübertragungsgefühlen ausgehend direkt Schlüsse auf die psychische Verfassung des Patienten, d.h. seine Neigung tatsächlich an sich Hand anzulegen, zu ziehen.

Erster Pol: Das Gegenübertragungsgefühl des manipulierten Objekts als Reaktion einer bestimmten Form der Objektsicherung des Siuzdalen

Kind beschäftigt im folgenden eine Gruppe von Patienten, die im Analytiker Haß und Sadismus hervorrufen. Während der Haß in der Regel eine objektabweisende Qualität hat, hat der Sadismus im allgemeinen eine objektbindende Qualität, weil der Sadist bei seinen quälenden, angstversetzenden, demütigenden Triebbefriedigungen auf die Anwesenheit eines Objekts angewiesen ist. Eine Reihe von suizidalen Patienten können oft nur auf sado-masochistische Weise Objektbindungen aufrecht erhalten. "Sie erleben sich in masochistischer Weise als Opfer, benutzen diese Rolle aber in sadistischer Weise, um die Zielperson...zu manipulieren, wodurch wiederum ...[ deren] Masochismus aktiviert wird."

Worin besteht nun die Manipulation? Der Patient vermag es, den Therapeuten einmal in eine Angst vor dem Patienten und in eine Angst um den Patienten zu versetzen. Letztere wird von Kind in der Erörterung des Pols der Objektaufgabe behandelt. Aber ein Patient, der das Objekt noch nicht aufgegeben hat, kämpft vielmehr um das selbe "und versucht, es unter Kontrolle zu bringen und von sich abhängig zu machen, wird in seinem von ihm manipulierten Objekt Angst erzeugen."

Die Begriffe Kontrolle und Objektsicherung lassen allerdings die Beweggründe für die Manipulationen zu sehr in den Hintergrund rücken. Es ist in diesem Falle vor allem die Angst des Patienten, "abgeschoben werden zu sollen" oder verstoßen zu werden, weil er sich im Grunde für nichts Wert hält.

Mit zwei Fallbeispielen versucht Kind zu belegen, wie Patienten den Therapeuten zu einem manipulierten Objekt zurichten können. Der erste Patient projizierte in den Therapeuten, zunächst lediglich ein Agent der ausbeuterischen Gesellschaft zu sein, die er haßt, der gegenüber er sich ohnmächtig fühlt und die er verantwortlich für seine Krankheit macht. Jeder Fortschritt in der Therapie wäre gleichbedeutend mit einer Unterwerfung und Auslieferung an die ausbeuterische Gesellschaft. Die folgende Verschlechterung des Zustandes des Patienten verhalf ihm zu der Möglichkeit den Therapeuten in die Hand zu bekommen. Mit der Einengung der Perspektive auf einen Suizid konnte der Patient mit der Beendigung der beruflichen Laufbahn des Therapeuten drohen. Als zweiten Fall beschreibt Kind die Phantasien einer stark suizidgefährdeten Frau, deren Analyse wegen ihrer Einweisung in eine geschlossene Anstalt durch Besuche des Analytikers fortgesetzt wurde. In Konkurrenz mit einer weiteren Analysepatientin phantasiert sie, die andere Frau und den Therapeuten einzuschließen, um sie ihrerseits zu besuchen.

Die Reaktionen der Patienten sind bezeichnend, da sie entweder die Möglichkeit des Rückzuges oder des Angriffs hatten. Sie wählten in der krisenhaften Situation jeweils einen Angriff auf den Therapeuten und griffen damit zu dem Mittel das Objekt unter ihre Kontrolle zu bringen (Objektsicherung). Der entsprechende Gegenübertragungszustand des Therapeuten weist "die Charakteristika eines per Manipulation gesicherten Objekts" auf.

Zweiter Pol: Das Gegenübertragungsgefühl des verlassenwerdens als Reaktion des aufgegebenseins des Objekts

Die andere Gegenübertragungskonstellation ist weniger dramatisch, leicht zu übersehen und muß von daher aktiv vom Therapeuten in sich selbst aufgesucht werden. In der Therapie stellt sich ohne ersichtlichen Grund eine Beruhigung und Entspannung, eine interaktionsarme Phase, ein. Es ist keine ersichtliche Verbindung zwischen der inneren Befindlichkeit des Patienten und äußeren Ereignissen feststellbar. Einige Patienten berichten über ihre Suizidalität, aber ohne Verlangen nach Hilfe oder Vorwurf. Im Therapeuten entsteht das Gefühl von Hilflosigkeit, ausgeschaltet zu sein und keine Einflußmöglichkeit zu haben. Es scheint, als müsse der Therapeut einem von ihm abgekoppelten Geschehen zusehen. Der Patient scheint ihm zu entgleiten. Der Therapeut hat nun nicht Angst vor dem Patienten, sondern um ihn. Es zeigt sich in ihm eigene Angst vor Objektverlust, während der Patient diese Angst nun nicht mehr hat. Kind vermutet hier, daß der Patient seine Objekte bereits aufgegeben hat und sich zum Suizid entschlossen hat.

Kind versucht in einem dritten Fallbeispiel diese äußerst gefährliche Phase der Therapie deutlicher zu machen. Die suizidale Patientin machte sich unter dem Gefühl nichts wert zu sein Selbstvorwürfe, nahm aber nie Bezug auf Menschen, mit denen sie zu tun hatte. "Sie beteiligte sich zwar zwischenzeitlich aktiv an gemeinsamen Unternehmungen mit anderen Patienten, aber ihre Einbrüche von Selbstabwertungen und Zerknirschung schienen stets wie aus heiterem Himmel zu kommen." Es schien, daß jegliche interpersonelle Ursachen, die zu Interaktionen hätten führen können, vermieden werden sollten. Die Patientin vermied damit die Gefahr vom Therapeuten verstanden und von ihm abhängig zu werden. Kind stellt eine Übertragung der Mutterimago auf seine Person fest, die von der Patientin aufgrund der erlebten entwürdigenden Mutter-Kind-Interaktion abgewehrt werden mußte. Ihre Stimmungswechsel "aus heiterem Himmel", "ohne Bezug zum Therapeuten" waren die entsprechenden Schutzmaßnahmen.

Diejenigen Gefühle, welche die erste Kategorie von Suizidpatienten durch ihre Objektsicherung dem Therapeuten aufzwingen, herrschen bei der zweiten Kategorie in den Patienten selbst. Letztere Patienten erreichen damit eine Gegenübertragung des "verlassen werdens" und deshalb "halten wollens". Kind vermutet daher im Patienten ein zu schwach ausgebildetes Objekt, das sich nicht gegen die selbstdestruktiven Tendenzen behaupten kann. Aber dem Patient gelingt es durch das Aufgeben aktiver Interaktionen, im Therapeuten das Haltenwollen des Objekts zu aktivieren, was ihm aus eigener Kraft nicht möglich war. Die Aufgabe des Therapeuten ist nun, die in ihn induzierten Gefühle der Hoffnungslosigkeit, des Verlassenseins und des Objektverlustes in sich aufzunehmen und in integrierter Form an den Patienten zurückzugeben. Der Objektaspekt ist auf diese Weise erhalten geblieben.

Interpersonelle und intrapsychische Suizidkonzepte

Die beiden dargestellten Gegenübertragungskonstellationen sind nach Kind zwei verschiedenen Konzepten der Suizidforschung zuzuordnen. Die Konstellation der Objektsicherung wird von Kind in der Erforschung der Suizidalität als interpersonelles Geschehen behandelt. Entsprechende soziologische Untersuchungen betonen die Bedeutung der Familie für die Suizidgenese. Sie verstehen die Suizide als "dyadische" oder "transaktionale" Phänomene (Shneidman 1968). Die Suizidalität hat hier eine deutlich kommunikative Funktion, hat Appellcharakter, ist ein "cry for help".

Dagegen gibt es Forschungsrichtungen, zu denen eher die zweite Gegenübertragungskonstellation zuzurechnen ist, nämlich den Suizid als intrapsychisches Geschehen zu verstehen. Hier ist zunächst Freuds Ableitung der Selbstmordneigung aus der Melancholie zu nennen. Hierbei wird die ursprünglich dem Objekt geltende Aggression über den Weg der narzißtischen Identifikation mit dem Objekt gegen das eigene Ich gewendet. Kind leitet davon ab, daß aus einen interpersonellen Vorgang ein intrapsychischer geworden ist.

Testverfahren und Fragebögen (Pöldinger 1982), die das Suizidrisiko bestimmen sollen, basieren ebenfalls auf der Erkundigung des intrapsychischen Geschehen. Hierzu gehört das "präsuizidale Syndrom" von Ringel mit den Kategorien der Einengung, des Aggressionsstaus und der Selbstmordphantasien.

Kind vermutet, daß die beiden Konzepte auf zwei entsprechende Gruppen von Patienten und/oder auf zwei aufeinanderfolgende Phasen innerhalb einer suizidalen Entwicklung hinweisen. Pöldinger nennt drei Phasen: 1. die Erwägung, 2. die Ambivalenz und 3. den Entschluß. Kind ordnet die Konstellation der Objektsicherung bzw. des interpersonellen Geschehens der Ambivalenzphase zu. Während die Konstellation der Objektaufgabe bzw. der des intrapsychischen Geschehens von ihm der Entschlußphase zugeordnet wird.

Blinde Flecken: Die Therapeuteneigene Seite beim Umgang mit suizidalen

Kind räumt ein, daß nicht nur ein vom Patienten induzierter Haß, sondern auch ein vom Charakter des Therapeuten bestimmter Haß an dem Patienten ausagiert werden kann. Dieses Ausagieren kann aus der Verordnung einer besonders hohen Dosis an Neuroleptika oder einer wenig begründeten Verlegung in eine geschlossene Abteilung bestehen.

Nun sind Haßgefühle in den helfenden Berufen im allgemeinen verpönt und müssen abgewehrt werden. Wer mag sich einfach seines Hasses auf seine Klienten bekennen? In der Regel wird dieser Haß verdrängt, d.h. der Haß wird vom Bewußtsein abgetrennt: man weiß nichts mehr davon. Dieser unbewußte Inhalt bleibt aber seinerseits nicht untätig und sucht einen Weg zur Befriedigung. Häufig umgeht er dabei das Bewußtsein und greift direkt in den motorischen Bewegungsapparat ein. Dies nennt die Psychoanalyse Ausagieren, da hier, ohne daß die Person sich ihres Hasses bewußt ist, Taten vollbracht werden, die eines Hasses würdig sind. So ist es notwendig, daß sich ein Angehöriger eines helfenden Berufes sich über seine Haßgefühle, Ängste und Konflikte im klaren ist.

Bei seiner Arbeit in der stationären Psychotherapie hatte Kind die Gelegenheit, bei Vertretungen, Nachtdiensten oder Wechsel der Mitarbeiter verschiedene Reaktionen auf ein und den selben Patienten zu beobachten. Ihm fiel auf, daß der Schweregrad der Symptomatik, vor allem in Krisensituationen, von den verschiedenen Therapeuten bisweilen unterschiedlich beurteilt wurden. Kind sieht darin einen Hinweis darauf, daß die Beurteilung und Entwicklung des Patienten auch vom Charakter des Therapeuten abhängig ist. Er nimmt an, daß bestimmte Inhalte, die der Patient aus Hilflosigkeit oder ähnlichem in den Therapeuten zu einem Gegenübertragungsgefühl unbewußt induziert und dessen Bearbeitung einen Fortschritt in der Therapie bedeuten würde, vom Therapeuten aufgrund seines Charakters entweder aufgenommen und bearbeitet werden können oder ängstlich abgewehrt werden müssen. Kind differenziert zwischen fünf verschiedenen Charakteren mit ihren spezifischen Konflikten und deren Folgen für die Behandlung.

Der hysterisch strukturierte Therapeut benötigt Turbulenz, um sich ausreichend zu spüren. Er neigt dazu dort Krisen zu sehen, wo keine sind. Damit kann er viel Dynamik im Patienten entfachen, was ihm leicht über den Kopf wachsen kann. Er muß die aktivierte Dynamik wieder unter Kontrolle bringen und neigt dabei zu überkompensatorischen Maßnahmen. Entwickelt der Patient tatsächlich eine suizidale Krise mit dem Ziel der Objektsicherung wird der hysterisch strukturierte Therapeut mehr auf die Krise reagieren und weniger den dahinter stehen Wunsch des Patienten erkennen, der ihn unter Kontrolle zu bringen sucht.

Der zwanghaft strukturierte Therapeut hingegen wird weniger die Krise wahrnehmen als das Kontrollbedürfnis des Patienten, da er selbst in erster Linie Angst hat, die Dinge könnten ihm entgleiten. Er neigt zu einem Machtkampf mit dem objektsichernden Patienten und kann daher die Gegenübertragung des manipulierten Objekts nicht für die Therapie nutzbar machen. Er neigt zum Verdrängen seiner sadistischen Impulse, was ihn leicht zum Agieren verleitet. In seiner Arbeitsweise klammert er sich aus seinem Kontrollbedürfnis fest an die Methode. Das kann im Patienten die Suizidalität verstärken, die den Therapeuten aus seiner Reserve locken soll. Die Freiheit, die sich der Patient im Suizid nähme, wäre eine Versuchung für den Therapeuten. Die aus der Abwehr resultierenden Feindseligkeiten sind somit nicht vom Patienten induzierte Gegenübertragungsgefühle, sondern sind Ausdruck des neurotischen Anteils des Therapeuten.

Der depressiv strukturierte Therapeut verharrt eher im Manipuliert- und Gequältwerden, wenn der Patient ihn unter Kontrolle zu bringen sucht. Er möchte geben, um zu bekommen, ohne fordern zu müssen. In dieser Gebebereitschaft liegt eine abgewehrte Gier. Auch wenn er aus einem aktiven Nehmen ein passives Bekommen machen kann, wird er nie voll befriedigt werden. Diese Differenz in sich wahrzunehmen macht ihm regelmäßig Schuldgefühle. So macht ihm jeder Vorwurf von seiten des Patienten Schuldgefühle, die er als gerechtfertigt anerkennt und von daher nicht mehr als Gegenübertragung, auf Betreiben des Patienten während seiner Objektsicherung, wahrnehmen kann. Der Therapeut arbeitet defensiv-versorgend und Kind konnte beobachten, wie dadurch die negativen Übertragungen aus der Beziehung zwischen Therapeut und Patient herausgedrängt werden und sich an ein anderes Teammitglied heften können. Der Therapeut verleugnet die Suizidalität eines Patienten in der Regel aufgrund von Objektverlustängsten. Allerdings je mehr Schuldgefühle der Therapeut ertragen kann, also Schuldgefühltoleranz er entwickelt, desto leichter kann der Patient, durch unbewußte Induzierung von Schuldgefühlen im Therapeuten, das Thema Schuld in die Therapie einbringen. Hat der Therapeut eine geringe Toleranz, so ist der Patient möglicherweise dazu genötigt seine interaktionellen Manöver bis zur eigenen Suizidalität auszuweiten, um dem Therapeuten zu "zeigen", das er das Thema Schuld bisher versäumt hat aufzugreifen. Andererseits neigt der depressiv strukturierte Therapeut seinerseits aufgrund seiner Aggressionshemmung zu einer eigenen Suizidalität. Hierbei könnte der Therapeut mittels einer unbewußten Gegenübertragung sein sadistisches inneres Objekt in den Analysanden verlegen. Der Patient hat nun das vom Therapeuten Stammende auszuhalten.

Der schizoid strukturierte Therapeut hat Schwierigkeiten zwischen Nähe und Distanz die richtige Einstellung zu finden. Aufgrund seiner Angst vor Verschmelzung mit seinem Objekt wählt er eine größere Distanz als für den Patienten angemessen ist. Er hat Schwierigkeiten bei Patienten, bei denen es erstens um eine enge Verbindung mit dem Objekt geht und zweitens bei Auswertungen der projektiven Identifikationen, durch die selektiv die Grenze zwischen selbst und Objekt durchbrochen wird. Er scheut passagere Identifikationen mit dem Patienten, da sie ihn in gefährliche Nähe zum Patienten bringen. Allerdings kann er mit der manipulativen Objektsicherung des Patienten gut arbeiten, da sie die Sicherung die Ich-Grenzen unangetastet läßt.

Der narzißtisch strukturierte Therapeut ist einer besonderen Belastungsprobe ausgesetzt, da der Erfolg in den helfenden Berufen untrennbar mir der Person verbunden ist. Er ist aufgrund seiner Identifizierung mit seinem Ideal-Ich auf schnelle, einfache Erfolge angewiesen und jeder Mißerfolg bedeutet für ihn eine schwere Kränkung seiner ganzen Person. Er nimmt Signale seiner Bestätigung in Form von Erfolgen und die Idealisierung seiner Person deutlicher wahr und neigt dazu, die Suizidalität seines Patienten zu verleugnen, um Kränkungen zu vermeiden. Sollte nicht nur die Therapie fehlschlagen, sondern der Patient seine Bemühungen aktiv zunichte machen, so bewirkt die Kränkung, daß der Therapeut bei sich stehenbleibt und nicht die dahinterstehenden Anliegen des Patienten wahrnimmt. Außerdem kann der narzißtisch strukturierte Therapeut, wenn er seine eigenen Idealisierungen und Allmachtswünsche nicht ausreichend reflektiert, dem Patienten nicht bei der Zurücknahme seiner Idealisierungen behilflich sein.

Zusammenfassend kann man sagen, daß jeder Charakter von Therapeuten spezifische Bereiche in der Psyche der Patienten besser bearbeiten können und andere schlechter. Durch jeden Charakter führen jeweils unterschiedliche Mechanismen zu Abbrüchen der Therapie, Steigerung der Suizidalität und deren Verleugnung. Die "blinden Flecken" in der Psyche des Therapeuten führen nicht nur dazu, daß der Therapeut die eine psychische Regung neben der anderen im Patienten nicht erkennt, sondern er ist in der Regel ausschließlich mit sich selbst und seinen Konflikten und Abwehrmechanismen beschäftigt, so daß er das Anliegen des Patienten in der induzierten Gegenübertragung nicht wahrnimmt. Er übersieht den Patienten.

Schlußdiskussion

Der eingangs beschriebene Kommilitone, den ich vor Jahren kennengelernt hatte, hatte in mir, sofern er wirklich suizidgefährdet war, Gegenübertragungsgefühle nach der manipulierenden Objektsicherung ausgelöst. Bei meinem Erlebnis handelte es sich allerdings vielleicht weniger um eine Objektsicherung, zu der es aber hätte werden können, sondern eher um ein eindeutiges Kontaktangebot. Meine Reaktion ließe sich vielleicht mit der des zwanghaften Charakters, der die Kontrolle behalten will und sich nicht kontrollieren lassen möchte, oder der des schizoiden Charakters, der aufgrund eigener abgewehrter Verschmelzungswünsche den anderen auf Distanz hält, vergleichen. Ob diese Zuordnung etwas über meinen Charakter aussagt, mag ich allerdings bezweifeln, da die Begegnung einfach zu kurz war.

Literaturliste

Freud, S. : Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse,

Studienausgabe Band I, Frankfurt aM 1982

daraus 26. Vorlesung: Die Libidotheorie und der Narzißmus

27. Vorlesung: Die Übertragung

32. Angst und Triebleben

Freud, S.: Schriften zur Behandlungstechnik

Studienausgabe Ergänzungsband, Frankfurt aM 1982

daraus Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie

Bemerkungen über die Übertragungsliebe

Kind, J.: Manipuliertes und aufgegebenes Objekt. Zur Gegenübertragung bei Suizidalen Patienten, Manuskript Göttingen 1981

Kind, J.: Suizidal. Die Psychoökonomie einer Suche,

Göttingen 1992

 

 
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