diplomarbeit
links
diskussionsforum
inhalt
HOME
 

 

THEMA SELBSTÄNDIGKEIT UND BEHÜTUNG IN ERZIEHUNGSRATGEBERN

Zur Prüfung am 8.Mai 2000 bei Professor Rülcker Im Fach: Diagnostik und Beratung

Erziehungsratgeber sind heute weit verbreitet und gefragt: Jährlich (1990) erscheinen in Deutschland 40-60 Erziehungsratgeber (BERG) neu auf dem Buchmarkt mit hohen Auflagen (Bestseller).

- BERG: Erziehungsratgeber gibt es auch in Form von speziellen Elternzeitschriften und Rubriken in Illustrierten oder ähnlichem, aber auch andere Medien (Fernsehen, Radio, Video) werden soziologisch betrachtet als sehr wirksam auf die politisch-pädagogische Mentalitätsbildung der Bevölkerung erachtet (OELKERS nimmt noch alle anderen Formen der Vermittlung pädagogischen Wissens hinzu, die zwar nicht explizit Ratschläge zur Erziehung geben, aber doch Ideale von Familie vermitteln und pädagogische Lösungen für Probleme auf dem Weg dorthin anbieten, wie zum Beispiel die Werbung). Exkurs: LÜDERS differenziert die Vermittlung von pädagogischem Wissen an Eltern in kommerzielle und in nichtkommerzielle Angebote, welche er wiederum in mediale und professionell persönliche Vermittlung aufteilt. Sein Ergebnis: Kommerzielle Angebote zielen allein auf die Absatzsteigerung der jeweiligen Ratgeber ab und die Produkte sind entsprechend populär aufgemacht; die nicht-kommerziellen Angebote, sind allerdings nicht sehr verschieden davon. Die Wirkung des vermittelten pädagogischen Wissens auf die Familien, und wie diese das Wissen umsetzen, ist so gut wie nicht erforscht.

- BERG: Erziehungsratgeber (wie auch andere Ratgeber) zeichnen sich dadurch aus, dass sie praktische Ratschläge für den Alltag geben, ohne auf ausreichend wissenschaftlich theoretischen Zusammenhängen zu basieren. Ratgeberliteratur entwickelt sich heute durch ihre Praxisbezogenheit vielmehr unbeirrt von der pädagogischen Theoriebildung. Andererseits nimmt sie Einflüsse aus der Medizin, Psychologie, normativen Lehrmeinungen und konfessionellen Vorstellungen von sittlich-moralischer Erziehung auf. Exkurs zur Geschichte der Ratgeber: Von der Griechischen Antike bis ROUSSEAU (Emile) und SALZMANN (Ameisenbüchlein) haben große Philosophen und Pädagogen so etwas wie pädagogische Ratgeber verfasst und konstituierten damit eine pädagogische Öffentlichkeit. Mit PESTALOZZI und seiner Orientierung als Ratgeber an die Mütter (Wie Gertrud ihre Kinder lehrt. 1801 und Buch der Mütter. 1803) bricht diese Tradition ab (BERG). Die Existenz von Ratgebern ist also nicht allein auf zunehmende Verunsicherung des Alltagshandelns durch die gesellschaftliche Modernisierung zurückzuführen, sondern Erziehungsratgeber gab es quasi seitdem es Erziehung gibt. Andersherum hat die pädagogische Wissenschaft zunehmend Skrupel entwickelt, Ratschläge zu erteilen. Diese Skrupel sind zum einen theoretisch begründet, da seit SCHLEIERMACHER und HERBART vergeblich versucht wurde, Erziehungsregeln und -lehren zu systematisieren und psychologisch und philosophisch zu fundieren. Zum anderen könnten sie auch moralisch begründet sein, da die Pädagogische Wissenschaft zunehmend auf autoritäre Formen der Erziehung und deren Vermittlung verzichten will. Drittens haben sich die Adressaten der Ratschläge geändert, jetzt sind es zunehmend die Mütter, denen aus Vorurteilen heraus keine theoretischen Auseinandersetzungen zugetraut werden Es kann auch an der zunehmenden Differenzierung durch Professionalisierung des Lehrerberufs im Verhältnis zu Laienpädagogen liegen. Da aber weiterhin Bedarf in der Bevölkerung nach konkreten Ratgebern besteht, differenzierten sich zwei Literaturgattungen der Pädagogik heraus: die akademische und die praktischen Ratgeber fürs Volk (also dem Bereich der Familie, wo die größte Erziehungsleistung erbracht wird).

- BERG charakterisiert Erziehungsratgeber wie folgt: Ein vermehrter Bedarf an Ratgebern entsteht, weil Selbstverständlichkeiten im alltäglichen Erziehungsprozess fragwürdig und die Ursachen von individuellen Problemen in der Erziehung gesucht werden. Erziehungsratgeber fordern den Leser zum Handeln auf und/oder zu Verhaltensänderungen gegenüber seinen Kindern oder Mitmenschen.. Erziehungsratgeber vermitteln immer ein Ideal oder zumindest ein Optimum eines glücklichen Familienlebens. OELKERS setzt hinzu: In Ratgebern wird das Scheitern von Erziehung immer den individuellen Fehlern und Dispositionen zugerechnet, das Gelingen von Erziehung ist immer eine Übereinstimmung von Verhalten (der Eltern) und Wissen (der Ratgeber). Sie sind autoritär und machen von sich abhängig. Die Abhängigkeit von Erziehungsratgebern entsteht dadurch, dass sie Paradoxien aufstellen und diese dann unaufgelöst lassen (Jeder Mensch kann sein persönliches Optimum erreichen)

- BERG: Erziehungsratgeber sind durch ihre unreflektierte Praxisbezogenheit ein "Fass ohne Boden". Es können immer neue Varianten der individuellen Problemlagen der Familien ersonnen und die entsprechenden Lösungen angeboten werden. - eine Pluralität der Erscheinungen. Exkurs LÜDERS: Wie gehen Erziehungsratgeber mit der Pluralität der Erscheinungen um? Drei Beispiele: 1. binäre Codierung der Lernwelten; 2. patchworkmäßiges Zusammentragen aller Meinungen bezüglich eines pädagogischen Imperatives; 3. Flucht in den reinen Erfahrungsaustausch unter den Betroffenen. Fazit: Alle drei Ratgeber akzeptieren die Pluralität der Lebensformen, aber nicht die Pluralität ihrer Leitlinien (sie werden dem Möglichkeitssinn - MUSIL - nicht ausgeliefert). Die Pluralität der pädagogischen Situationen wird nicht ernst genommen, sondern über Gebühr reduziert.

- BERG: In Erziehungsratgebern erhält sich hartnäckig immer noch ein Abglanz bürgerlicher Tugenden als Ziele von Erziehung (Höflichkeit, Pünktlichkeit, Fleiß, Ehrlichkeit, Disziplin, Pflichterfüllung, Gehorsam...) Diese Fermente gesellschaftlicher Entwicklung sind sehr geeignet von Ratgebern aufgegriffen zu werden, da sie der autoritären Struktur der Ratgeber inhaltlich entsprechen, und von daher für Ratgeber leicht greifbar und beschreibbar sind.

- OELKERS: Mit Erziehungsratgebern (insbesondere durch ihre enorme Ausbreitung und angenommene nicht erforschte erhebliche Wirkung auf die Erziehungspraxis) tritt der pädagogischen Disziplin ein Phänomen entgegen, das sich unbeirrt von den grundsätzlichen Verunsicherungen wissenschaftlicher Theoriebildung der Pädagogik entfaltet (z.B. der Theorie/Praxis-Widerspruch wird nicht problematisiert, sondern übergangen) und dennoch eine neue Form von wirkungsvoller Theoriebildung darstellt (Ratgeber entsprechen dem Medialem: gegenteilige Behauptungen können nacheinander ohne miteinander in Konflikt zugeraten auftreten. In einer herkömmlichen Theoriebildung ist das nicht möglich.). Die theoretische Verunsicherung bestände darin, dass pädagogisches Handeln grundsätzlich ebenso auch scheitern kann (siehe HILDESHEIMER und die unaufhaltsame Zerstörung der Erde). "Ratgeber jedweder Art müssen positiv beschlossen werden, Erziehungswelten benötigen optimistische Symbole, die alltägliche Reflexion über Erziehung darf nicht am Objekt scheitern. Aus dieser Struktur heraus gibt es immer den richtigen Weg, weil kein Problem pädagogisch unlösbar erscheint."(OELKERS, Seite 7)

- OELKERS: Ratgeber lassen sich nicht wissenschaftlich nicht in ihren Zielen und ihrer Zweck-Mittel-Relation überprüfen; eine Effektkontrolle oder eine Wahrheitskontrolle bleibt ausgeschlossen. Vielmehr werben sie um moralische Zustimmung, um schon mal das Gute auf seiner Seite zu haben (gegen Lügen und Gewalt, für Zeithaben...). Seine Absichten erscheinen im besten Licht, wobei eine erstaunliche Beweglichkeit im strukturerzeugenden pädagogischen Wissen zu erkennen ist. Es kann nämlich auf verschiedenen Kontexte angewendet werden ohne den Sinn zu verlieren. OELKERS fordert dagegen Belastungskalkulationen und Risikoanalysen für Ratschläge. - Die Erziehung zu Selbständigkeit und der Wunsch der Eltern nach Behütung der Kinder, gehören als Ideale von Erziehung, als aktuelle gesellschaftliche Normen, zu den unverrückbaren Tabus von Erziehungsratgebern. Vor allem bei der Erziehung zur Selbständigkeit mit Hilfe von Erziehungsratgebern stellt sich Frage, wie können Eltern die Anleitung des Ratgebers gehorsam einhaltend, ihre Kinder zu selbständigen Menschen erziehen? - Eine positive Perspektive für Erziehungsratgeber stellt BERG jedoch auf: Wenn Erziehungsratgeber sich allein als Entscheidungshilfe für individuelle Erziehungsprobleme verstehen könnten, könnten sie ihre autoritäre, abhängigmachende, die Pluralität reduzierende Wirkungsweise ablegen. Das Vorbild hierfür könnte die "im Ergebnis offene" Beratung sein. Hierbei wird nicht zu der einzig richtigen Lösung auf die konkrete Situation geraten, sondern durch Aufklärung werden die begrenzten Handlungsmöglichkeiten der Eltern in ihren Erziehungssituationen erweitert. Was vorher die Anwendung des "richtigen" Instrumentes war, ist nun ein Stück Freiheit im Umgang der Eltern mit ihren Kindern. Die Beratung als Entscheidungshilfe belässt den Einzelfall in seiner Pluralität zu den anderen Einzelfällen, verzichtet auf moralische Überbauten, die von den Eltern angenommen werden müssen. Sie entgeht damit dem Kausalzwang, der autoritären Struktur und erlaubt keine Transfers. Allerdings ist die ergebnisoffene Beratung ihrerseits ein Ideal, denn sie setzt den perfekten Berater voraus, der auch tatsächlich auf moralische Konstrukte verzichten kann und den Ratsuchenden auch wirklich versteht, und perfekte Ratsuchende, die auch wirklich "nur" die Entscheidungshilfe wollen und erwarten.

 
westalgarve.de gästebuch
inhalt
mail an mich
impressum
HOME

© 2000 tatjana lausch — design: kai lewendoski